Premiere von Kerstin Poltes „Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?“ in Essener Lichtburg am 2.5.18

v.l.n.r.: Meret Becker, Annalee Ranft, Kerstin Polte, Karl Kranzkowski Foto: Maxi Braun

Essen, den 2.5.: Es gibt diese Momente, in denen uns ein Mensch auffällt. Weil er aus der Masse heraus sticht oder abseits alleine steht. Wir beobachten diese Person, studieren ihre Haltung, ihre Mimik und etwas fesselt uns an der Art, wie er oder sie ein Buch, ein Bier oder eine Zigarette hält. Wenn sich dann die Blicke kreuzen und wir den Mut fassen, ein Gespräch zu suchen, versuchen wir dem Gegenüber telepathisch einzuflüstern: Bitte, sag oder tue jetzt nichts, was diesen ersten, magischen Eindruck zerstört.

Ein ähnliches Gefühl wie dieses Flirtszenario erzeugt auch Kerstin Polts Debüt-Spielfilm „Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?“. Es ist einer dieser Filme, die man von Anfang an mögen will. Liebevolle Opening Credits, ein schmissiger Song, wohl komponierte Einstellungen, die einen emotional und ästhetisch auf das vorbereiten, was kommt. Und auch während dieser Exposition hoffen wir inständig, dass der erste, positive Eindruck nicht zerstört werden möge. Diese Hoffnung setzt in diesem Fall unterbewusst schon vor der Filmvorführung ein. Die Regisseurin und HauptdarstellerInnen Meret Becker, Karl Kranzkowski und Annalee Ranft nehmen sich Zeit auf dem roten Teppich, machen Faxen vor der Fotowand, wirken bodenständig, sympathisch. Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen posiert mit seinem Mann Davi Lüngen, Joachim H. Luger (besser bekannt als Hans Beimer aus der „Lindenstraße“) versucht sich mit Sonnenbrille vorbei zu schleichen.

Im Saal berichtet Maximilian Leo von der Produktionsfirma „Augenschein“, dass es über sieben Jahre vom Exposé auf seinem Tisch bis zur Realisation des Films gedauert habe, der schließlich in nur 25 Drehtagen auf Fehmarn mit viel Herzblut abgedreht wurde. Thomas Kufen bescheinigt der Regisseurin, alles richtig gemacht zu haben: „Sie feiern die Premiere im größten und schönsten Kino Deutschlands“. Im Mittelpunkt des Films steht Charlotte (Corinna Harfouch), die nach mehr als 37 Jahren Ehe mit ihrem Mann Paul (Karl Kranzkowski) nicht nur unter der Routine leidet. Charlotte vergisst immer mehr und fürchtet sich davor, gänzlich zu verschwinden. Weder ihrem Mann, noch ihrer chaotischen Tochter Alex (Meret Becker) oder ihrer Enkelin Jo (Annalee Ranft) vertraut sie sich an. Als sie Paul spontan an einer Autobahnraststätte stehen lässt und mit Jo zu einem Abenteuertrip aufbricht, setzt der impulsive Befreiungsakt erst die Handlung in Gang.

In „Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?“ werden eine Vielzahl von Themen gleichermaßen tiefgründig wie leichtfüßig verhandelt: Es geht ganz praktisch um Krankheit, Alter, allein erziehende Mütter, rebellische Töchter, die Tücken des Alltags eben. Auf einer Metaebene streift die Regisseurin aber die ganz großen Themen…

Dieser Text ist erschienen auf www.trailer-ruhr.de

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Leitartikel zum Thema KARL MARX (engels-Magazin 05/18)

Marx modern frisiert

Die Frage ist nicht ob, sondern wie der Kapitalismus endet

Ein TV-Interview von Richard David Precht mit Sahra Wagenknecht 2015 brachte den Widerspruch von Philosophie und Politik auf den Punkt: Für Wagenknecht steht die Utopie am Ende einer Entwicklung vieler kleiner Maßnahmen. Precht meint, die Utopie muss der Ausgangspunkt jeder tiefgreifenden, gesellschaftlichen Veränderung sein. Aber wie gelangen wir zu Utopien, die nichts anderes als Antworten auf die Frage sind: Wie wollen wir leben?

Mitte des 19. Jahrhunderts erdachte Karl Marx so eine Utopie: den Kommunismus. Die Versuche praktischer Umsetzung, ob ernst gemeint oder ideologisch instrumentalisiert, können nur als brutal gescheitert gesehen werden. Für dieses Scheitern konnte Marx nichts, viele andere Entwicklungen hat er prophetisch vorhergesagt. Das verelendete Proletariat haben wir im Zuge der Globalisierung in die Textilfabriken, Bergwerke oder Minen Asiens und Afrikas ausgelagert. Konzerne wie Nestlé, Google oder Facebook konzentrieren Macht und Reichtum in nie gekanntem Maße und die Krisenanfälligkeit unserer Wirtschaft ist seit 2007 keine Propaganda einer irren Kommunisten-Kassandra mehr, sondern Realität.

Kann uns Marx bei der Gestaltung unserer Zukunft behilflich sein? Tatsächlich könnte die Digitalisierung die Überwindung der arbeitsteiligen Gesellschaft bedeuten, das Ende der Lohnarbeit und der Trennung in eine herrschende, weil über die Produktionsmittel verfügende Klasse und eine beherrschte, über die Produktivkraft verfügende Klasse. Harald Welzer und Precht beschäftigen sich beide mit der digitalen Revolution und deren –nach Perspektive – utopischen bis dystopischen Folgen. Welzer skizziert in seinem Buch „Die smarte Diktatur“ (2016) das Digitale als Triebkraft, die den Kapitalismus in neue Extreme führen wird. Precht identifiziert im Digitalen eine Chance zur Überwindung des Kapitalismus. Er malt sich flexible Start-Upper aus, die in einem Café vor dem Laptop sitzen und Latte Macchiato süppelnd Aufträge abarbeiten, während die Kinder zu ihren Füßen wuseln. Zwischen Welzers versklavtem Digital-Prekariat und Prechts Digital-Bohème liegt der Raum, den Menschen, nicht Maschinen künftig gestalten müssen …

Dieser Text ist erschienen im engels-Magazin 05/18 und online auf: www.engles-kultur.de
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Vorbericht: 64. Internationale Kurzfilmtage Oberhausen

Meine erste Begegnung mit dem „anderen Kino“ hatte ich 2007, als der Studienkreis Film an der Ruhr-Universität Bochum sein 40-jähriges Jubiläum feierte. Plötzlich sah ich mich im Hörsaal-Kino einem riesigen Penis gegenüber, der ein Filmfördergesetz zitiert und danach herzhaft ejakuliert. Dabei handelte es sich um Hellmuth Costards Film „Besonders wertvoll“. Dieser wurde 1968 ob seiner Anstößigkeit nach Einspruch der Staatsanwaltschaft aus dem Programm der (damals noch) Westdeutschen Kurzfilmtage Oberhausen genommen, guerillamäßig nach Bochum transportiert und in dem kurz zuvor gegründeten Filmclub gezeigt. Costard war Teil eben jener Experimentalfilm-Bewegung, die das Medium vom Kino und seinen klassischen Konventionen befreien und eigene Spielorte und Festivals kreieren wollte. Wichtige AkteurInnen neben Costard waren Lutz Mommartz, Hartmut Bitomsky, Harun Farocki oder Werner Nekes und Dore O. Mit diesem „anderen Kino“ beschäftigt sich auch das Thema der 64. Ausgabe der Kurzfilmtage Oberhausen unter dem Titel „Abschied vom Kino. Knokke, Hamburg, Oberhausen (1967-1971)“. Hamburg war ein Hotspot der Bewegung, 1968 fand dort mit der „Hamburger Filmschau“ das erste unabhängige Festival statt. Das belgische Knokke war die Heimat des Experimentalfilmfestivals „Exprmntl“. In Oberhausen werden Arbeiten aus dieser Zeit gezeigt und mit AkteurInnen von damals diskutiert.

Das Festival wird in diesem Jahr außerdem um vier Sektionen reicher. Die erste, „Conditional Cinema“, versteht das bewegte Bild als fließende Kunstform, Mika Taanilas Projekt „live cinema“ ist der Auftakt. Neu sind auch die „Lectures“: Marisa Olson, Roee Rosen und Liam Young erhalten in dieser Sektion eine Carte blanche für ihre unterschiedlichen Ansätze Bewegtbilder zu präsentieren. Ebenfalls neu sind die Sektionen „Labs“ und „re-selected“, die beide gegen die Diktatur des Digitalen aufbegehren. Labs bietet Künstlerlaboren, die sich mit allen Bereichen des Analogfilms in der post-kinematografischen Ära beschäftigen, eine Plattform, „re-selected“ versteht Filmgeschichte als Kopiengeschichte.

Seit bereits 20 Jahren fester Bestandteil ist die MuVi-Sektion. Neben dem abendfüllenden Programmblock internationaler Musikvideos kann noch bis zum 5. Mai online für das beste deutsche Musikvideo gevotet werden. Weiblich dominiert sind in diesem Jahr die Profile. Von Fotografin und Filmemacherin Louise Botkay, den Regisseurinnen Eva Könnemann aus Deutschland und Salomé Lamas aus Portugal und dem rumänischen KünstlerInnen-Duo Florin Tudor und Mona Vatamanu werden kleine Werkschauen präsentiert. Hinzu kommen fünf Wettbewerbsprogramme, in denen 132 Kurzfilme und Musikvideos zu sehen sind. Insgesamt warten über 500 Filme aus mehr als 60 Ländern in Oberhausen darauf, entdeckt zu werden. Und wer weiß, vielleicht ist ja auch das ein oder andere gesprächige Genital dabei, das Filmgeschichte schreiben wird.

Der Artikel ist erschienen im trailer-Magazin 05/18 und auf www.trailer-ruhr.de.

Netflix gebingewatched, geweint: Wer entscheidet, wofür Filme gemacht werden?

Bekanntlich schlagen die Bäume erst im Mai aus, in Cannes wird aber schon seit März kräftig ausgeteilt. Das mag am mediterranen Klima der Côte d’Azur liegen, vielleicht auch an einer frühlingsgefühlsbedingten Testosteronwallung der Alphahengste Thierry Frémaux und Ted Sarandos. Denn neben Selfies am Roten Teppich und exklusiven Presse-Screenings für JournalistInnen fällt auch Netflix in diesem Jahr an der Croisette aus.

Festivaldirektor Frémaux entschied, dass 2018 nur noch Filme im Wettbewerb laufen, die auch in französischen Kinos starten. Der Abstand zwischen Kinostart und Streaming-Verwertung muss laut französischem Recht aber mindestens 36 Monate betragen – und so lange wollte Ted Sarandos, Chief Content Officer von Netflix, nicht warten und zog beleidigt alle Netflix-Produktionen vom Festival zurück. Außer Konkurrenz oder in einer anderen Sektion? Nicht mit ihm. Aus cinephiler Sicht ist das ein Verlust, denn das Breivik-Biopic „Norway“ von Paul Greengrass, „Hold the Dark“ von Jeremy Saulnier und Alfonso Cuaróns „Roma“ werden wohl nie in einem Kino zu sehen sein. Das könnte auch für Orson Welles‘ unvollendeten „The Other Side of the Wind“ von 1972 mit John Huston, Peter Bogdanovich und Susan Strasberg gelten, für den Netflix 2016 die Rechte erwarb. Die aufwendig restaurierte Fassung sollte in Cannes Premiere feiern. Allerdings: Cannes ist ohnehin kein Publikumsfestival und uns bleibt immer noch der Stream.

Spannender ist der Konflikt wegen der grundlegenderen Frage, um die es eigentlich geht: Wer hat die Definitionsmacht darüber, was Kino ist? Hier stehen sich der US-amerikanische VoD-Anbieter und Cannes als Verfechter unterschiedlicher Auffassungen von Filmkultur gegenüber. Netflix kommt aus dem Land, das Film in erster Linie als massenkompatibles Konsumprodukt versteht. Cannes hingegen gilt als exklusiv und sogar elitär, ein Palm d‘Or-Gewinner muss nicht notwendig auch beim Publikum ankommen. Das Festival rühmt sich nicht zu Unrecht, Film als Kunstform gegen rein kommerzielle Marktmechanismen zu verteidigen. Andersherum wird seelenloser Glamour auch in Cannes nicht kleingeschrieben und Netflix‘ Eigenproduktionen können ein Hort für Innovation sein. Spielfilme wie Dee Rees „Mudbound“ oder Noah Baumbachs „The Meyerowitz Stories“ (der 2017 noch in Cannes lief) sind dafür ebenso Beweis wie die Netflix-Serien, die oft etwas genuin Filmisches haben. „Stranger Things“ feiert das Kino der 1970er/80er Jahre in jeder Einstellung und die Mystery-Serie „Dark“ wirkte als erste deutsche Produktion mal nicht wie ein „Tatort“ oder Fernsehspiel.

Dennoch: Für Netflix ist Film eine Kunstform, die auf dem heimischen Flatscreen oder gar dem Smartphone ebenso funktioniert wie auf der großen Leinwand. Aber der Streit um das Kino als Ort, für den Filme gemacht werden, wird nicht erst seit Erfindung von VHS und DVD geführt und diese Debatte ist nicht die letzte. Auch Amazon-Produktionen laufen auf Festivals und im Kino, Disney strebt eine eigene Streaming-Plattform an und es wird gemunkelt, sogar Facebook verfolge Streaming-Ambitionen. Wie sich die Kunstform, das Kulturgut und das Geschäftsmodell Kino entwickeln wird, bleibt spannend. Und immerhin haben wir als Publikum mit unseren Sehgewohnheiten da auch noch ein Wort mitzureden.

Dieser Text erschien  im trailer ruhr-Magazin 05/18 und online auf:
www.trailer-ruhr.de
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