Gesellschaft aus dem Takt

Filmkritik: „Waldheims Walzer“ legt spannend montiert wie ein Politthriller die Mechanismen von Fake News und Populismus offen.

Geschichte wiederholt sich nicht. Bestimmte gesellschaftliche Muster schon, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Seit 2015 sind es anti-muslimische Ressentiments, mit denen rechte Bewegungen und Parteien in Österreich, Ungarn oder Deutschland gegen Geflüchtete und Migrantinnen mobilisieren. Als Ex-UN-Generalsekretär Kurt Waldheim 1986 für das Amt des österreichischen Bundespräsidenten kandidierte, waren es längst überwunden geglaubte antisemitische Vorurteile, die plötzlich wieder laut ausgesprochen wurden. Es sind vor allem jene Szenen in „Waldheims Walzer“, die offenen Antisemitismus in den Straßen Wiens Ende der 1980er dokumentieren, die uns daran erinnern, wie dünn die Membran ist, die unsere demokratische Zivilisation umgibt. Während des Wahlkampfs traten Lücken in der Kriegsbiografie Waldheims zwischen 1941 und 1945 zutage, die dieser nicht erklären konnte und wollte. Österreichische Medien und der Jüdische Weltkongress in New York recherchierten und legten Beweise vor, dass Waldheim im Zweiten Weltkrieg mehr gesehen und getan hatte, als er öffentlich zugab. Konfrontiert mit Vorwürfen zu seiner Beteiligung bzw. Mitwisserschaft an NS-Kriegsverbrechen, verstrickte er sich in Widersprüche. Er inszenierte sich als Opfer einer Verschwörung und zog sich auf die Position soldatischer Pflichterfüllung zurück. Es kam zu heftigen Protesten gegen Waldheim, andererseits schien er vielen Österreicherinnen aus der Seele zu sprechen. Die Vorwürfe gegen ihren Kandidaten empfanden sie als ungerechtfertigte Einmischung von außen und standen gemäß dem Motto „Jetzt erst recht!“ umso vehementer hinter ihm.

Fesselnder Politkrimi. Dokumentarfilmerin Ruth Beckermann erzählt diese Ereignisse, die als „Waldheim-Affäre“ in die Geschichte eingegangen sind, chronologisch zuspitzend wie einen Politthriller. Die Wienerin war 1986 selbst „halb dokumentierend, halb demonstrierend“, wie sie im Film erwähnt, vor Ort an den Anti-Waldheim-Protesten beteiligt. Auf eine historische Rückschau mit klassischen Talking Heads verzichtet sie bewusst. Stattdessen kompiliert sie ihr eigenes Filmmaterial und solches, das sie in akribischen Recherchen in den Archiven des ORF sowie in den USA, Großbritannien und Israel aufspüren konnte. Derart verdichtet liefert sie nicht nur eine Analyse der Affäre und eines Generationenkonfliktes, sondern legt auch die Charakterstudie eines für seine Generation typischen Mannes vor.
Für „Jenseits des Krieges“ (1996) interviewte Beckermann Besucher*innen und Zeitzeug*innen auf der viel diskutierten Wehrmachts-Ausstellung unter direktem Eindruck der Exponate, um individueller Erinnerung nachzuspüren. In „Waldheims Walzer“ geht es ihr dagegen um kollektive Verdrängung und die Rekonstruktion von Vergangenheit. Das von Editor Dieter Pichler in perfektem Rhythmus montierte Bildmaterial bringt in Kombination mit dem Off-Kommentar der Regisseurin Objektivität und Subjektivität, aber auch Vergangenheit und Gegenwart in ein fesselndes Spannungsverhältnis. So behandelt der Kompilationsfilm zwar ein abgeschlossenes historisches Ereignis, ist aber zugleich ein Lehrstück über die universellen Mechanismen von Fake News, Populismus und das Schüren von Ressentiments. Diese waren auch schon vor Social Media wirkmächtig und sie sind es noch heute. 2018 denkt dabei niemand mehr an Waldheim. Dafür aber an Trump, Orban oder die menschenverachtenden Ausfälle der FPÖ oder AfD.

Beginn historischer Aufarbeitung. Kurt Waldheim wurde in einem zweiten Wahlgang dennoch gewählt. Aber der „Österreicher, dem die Welt vertraut“ blieb während seiner gesamten Amtszeit international isoliert und landete 1987 sogar auf der Watchlist der USA für mutmaßliche Kriegsverbrecher. Die Waldheim-Affäre markierte jedoch den Beginn eines Aufarbeitungsprozesses: Die bis dato gültige und für viele Österreicher* innen bequeme Lebenslüge, ihr Land sei das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen, wurde erstmals kritisch hinterfragt. Ein wichtiger Film über eine historische Zäsur, der viel über unsere Gegenwart aussagt und beweist, wie viel gesellschaftlicher Druck bewirken kann.

Erschienen in: an.schläge 2018, an.sehen, Kultur, VII / 2018 (Print)
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Berg- und Talfahrt

Von Berlin „5050×2020“ über #OscarSoMale nach Nairobi

Weniger Eindruck scheint Frances McDormands flammende Laudatio 2018 bei den Mitgliedern der Oscar-Academy hinterlassen zu haben. Was war nochmal der Inclusion Rider? Und wo sind eigentlich die Frauen, außer auf den Red-Carpet-Hochglanz-Fotostrecken der Lifestyle-Magazine? Angesichts der Nominierungsliste ist das eine berechtigte Frage. Denn wenn am 24. Februar die 91. Academy Awards verliehen werden, wird in den Kategorien „Best Picture“, „Best Director“ und „Best Cinematographer“ keine einzige Regisseurin oder Kamerafrau vertreten sein. Yorgos Lanthimos‘ „The Favourite – Intrigen und Irrsinn“ bietet mit Emma Stone, Rachel Weisz und Olivia Colman immerhin einen starken weiblichen Cast und Alfonso Cuaróns Netflix-Produktion „Roma“ ist eine Ode an weibliche Willensstärke. Schauspielerin Yalitza Aparicio ist zudem die erste indigene Frau und nach Selma Hayek erst die zweite gebürtige Mexikanerin, die je für einen Oscar als beste Hauptdarstellerin nominiert wurde. Die Oscars sind noch immer männlich, aber nicht mehr ganz so „weiß“. Mit „Capernaum“ (nominiert als bester fremdsprachiger Film) von Nadine Labaki und den Dokumentarfilmen „Free Solo“ (Regie: Jimmy Chin, Elizabeth Chai Vasarhelyi) und „RBG“, das Porträt der US-amerikanischen Richterin und Frauenrechtlerin Ruth Bader Ginsburg von Betsy West und Julie Cohen, hat noch eine kleine Handvoll Regisseurinnen Aussicht auf einen Oscar.

In Puncto Gender, Race und Diversity völlig unangestrengt ganz vorne mit dabei ist ein Film, der aktuell in unseren Kinos läuft. „Rafiki“ erzählt eine queere Liebesgeschichte fernab afrikanischer Elendsklischees in einem vor Vitalität pulsierenden Stadtviertel Nairobis. Wanuri Kahius Film glänzt mit einer vibrierenden Bildästhetik, hervorragenden Darsteller*innen und einer ebenso spannend erzählten wie berührenden Geschichte, ohne gesellschaftliche Probleme wie Homophobie und Sexismus zu verschweigen.

Die beste Nachricht zum Schluss: Anfang des Jahres kam eine britische Studie, die Langzeitdaten von 2.148 Frauen und Männern über 50 Jahren auswertete, zu dem hier stark verkürzt dargestellten Ergebnis, dass Kinobesuche vor Depressionen schützen. Gegen den Winterblues finden Sie auf den folgenden Seiten rezeptfreie, cineastische Antidepressiva. Einzig mögliche Nebenwirkung: Chronische Horizonterweiterung.

Dieser Text erschien im trailer ruhr-Magazin 02/19 und online auf www.trailer-ruhr.de

Manchmal kommen sie wieder: Schneller, höher, weiter, öfter ist die Devise für 2019

In „Und täglich grüßt das Murmeltier“ erlebt Phil Connors, alias Bill Murray, ein und denselben Tag als niemals endendes Déjà-vu. Beim Schreiben des Vorspanns für diese Januarausgabe fühle ich mich angesichts der für 2019 angepriesenen Blockbuster wie Phil: Als würde mir stolz ein zotteliger Nager wie Löwenbaby Simba entgegen gereckt und als der neuste, heiße Scheiß verkündet. „Nants ingnyama bagithi Baba“ – das mysteriöse Intro aus „Der König der Löwen“ klingt übrigens auch nur originell und bedeutet ganz schlicht: „Hier kommt ein Löwe, Vater.“ Mit dieser Sequenz wird unvermeidlich auch die Live-Action/CGI-Adaption des Zeichentrick-Klassikers aus dem Hause Disney beginnen, deren Start für Juli 2019 geplant ist. Zu Disney gehört übrigens auch Marvel. In dessen Comic-Adaptions-Universum wuseln 2019 allerlei Superheld*innen durch das Franchise des jeweils anderen, hüpfen als X-Men und Women vorwärts und rückwärts durch Raum und Zeit („The New Mutants“, „Dark Phoenix“) oder treffen sich in „Avengers: Endgame“. Konkurrent DC bevölkert die Leinwände derweil mit „Wonder Woman 2“, „Shazam!“ und Joaquin Phoenix als „Joker“. Der Sequel-Wahn beschert uns 2019 neben einem Wiedersehen mit dem anderen irren Psychoclown Pennywise („Es 2“) auch „John Wick 3“, „Toy Story 4“, „Terminator 6“ oder „Star Wars: Episode IX“. James Bonds 25. Mission wurde immerhin auf 2020 verschoben. Punxsutawney ist trotzdem überall.

Auf ein paar der großen Filme dürfen wir uns trotzdem freuen, beispielsweise auf die lang erwartete Fortsetzung des crowdgefundeten „Iron Sky“. Seit 2016 wiederholt verschoben, soll es im Februar auf der 69. Berlinale mit „Iron Sky: The Coming Race“ weitergehen. Wenn das Sarah-Palin-Double nach der Apokalypse im Erdinnern auf Hitler trifft, der auf einem T-Rex reitend eine Dinosaurierarmee befehligt – welcher Fan des ungepflegten Naziploitation-meets-Dinosaur-Trashs kann da widerstehen? Ein Meister der High Class-Exploitation ist bekanntlich Quentin Tarantino. In seinem neunten beziehungsweise zehnten Film (je nach Zählweise von „Kill Bill“) lässt er in „Once Upon a Time in Hollywood“ vor der historischen Folie der Manson-Morde von 1969 einen Top-Cast aus Leonardo DiCaprio, Brad Pitt, Margot Robbie und Al Pacino agieren. Spannend dürfte auch Tim Burtons „Dumbo“-Interpretation werden, denken wir nur an die halluzinogene Rosa-Elefanten-Sequenz. Genial ist allerdings, wenn wir gar nicht merken, dass wir ein Sequel sehen. M. Night Shyamalan, der seit „The Sixth Sense“ nur Alternativhandlungen um den nächsten Plot-Twist strickte, wartete in „Split“ (2016) gleich mit zwei Überraschungen – Achtung, Spoiler! – auf: Die multiple Identitätsstörung wurde garniert mit der finalen Erkenntnis, dass wir gerade die Fortsetzung von „Unbreakable“ (2000) gesehen hatten. Innerhalb des Shyamalan-iverse genannten, selbstreflexiven Erzählraums geht es 2019 mit „Glass“ weiter.

In nur einem Punkt wiederhole ich mich übrigens alle Jahre wieder gern: Was abseits des Mainstreams an innovativen, packenden und überraschenden Filmen in unseren hiesigen Programmkinos zu sehen ist, lesen Sie auch 2019 weiterhin hier bei uns.

Dieser Text erschien im trailer ruhr-Magazin 01/19 und online auf www.trailer-ruhr.de

Rezension „The Handmaid’s Tale“ (Serie)

Gesellschaft mit beschränkter Hoffnung

Was passiert, wenn die Menschheit durch Unfruchtbarkeit vom Aussterben bedroht ist? In Margaret Atwoods Roman „Der Report der Magd“ (1985) führt dies nach Atomkriegen und Staatsstreich zur Gründung der Republik Gilead, einer paramilitärische Diktatur mit theokratischen Zügen. Die verbliebenen fruchtbaren Frauen werden von mächtigen Männern, den „Kommandanten“, wie Zuchttiere gehalten, um als Leihmütter wider Willen den Fortbestand der Menschheit zu sichern.

Fanatismus. Die für den Streaming-Dienst Hulu produzierte US-Serie „The Handmaid‘s Tale“ orientiert sich in der ersten Staffel an der Romanhandlung. Erzählt wird die Geschichte aus Sicht der Magd Offred (Elisabeth Moss). Vor der Diktatur hieß sie June Osborne, hatte einen Partner und eine Tochter, von denen sie bei einem Fluchtversuch getrennt wurde. Wie alle Mägde trägt sie nun das Besitz anzeigende Patronym des Kommandanten Fred Waterford (Joseph Fiennes), in dessen Haus sie leben muss. An fruchtbaren Tagen wird sie von ihm in einer Zeremonie, die strikten Regeln folgt, unter Mitwirkung seiner Ehefrau vergewaltigt. Gefügig gemacht werden alle Mägde zuvor im „Roten Zentrum“: einem Umerziehungslager, in dem sie von „Tanten“ genannten Aufseherinnen mit Elektroschocks malträtiert werden.

In Rückblenden wird erläutert, wie es so weit kommen konnte: zunehmender Fanatismus, Einschränkung von Frauen- und Freiheitsrechten, Kriminalisierung von Homosexualität – alles im Namen der Sicherheit und für den Fortbestand der Spezies. Das erinnert nicht zufällig an die derzeit reale politische Tendenz, Freiheitsrechte zugunsten einer vermeintlich größeren Sicherheit einzuschränken.

Triggerwarnung. Die dargestellte sexualisierte, physische und psychische Gewalt ist explizit, das Gefühl der Beklemmung und Ausweglosigkeit in jeder Einstellung präsent. Auf den Straßen patrouillieren Sicherheitsleute mit Maschinengewehren. Konsum, Mode, Soziale Medien sind bedeutungslos, back to the roots in ehemals prunkvollen Villen. Drinnen wird gestrickt, draußen im Vorgarten hängen die Leichen von Dissident*innen. Wer der Hinrichtung entgeht, wird in den Giftmülldeponien außerhalb der Stadt durch Zwangsarbeit entsorgt. Das alles muss so drastisch gezeigt werden, weil es zum Alltag Gileads gehört. Die Kamera schwelgt nicht in Gewaltexzessen, sie schaut nur nicht weg, und macht sich so mit den Täter*innen gemein, die sich im göttlichen Recht wähnen. Auch der weibliche Körper wird nicht ausgestellt, ist selten Objekt männlicher Begierde. Das Äußere spielt keine Rolle mehr, der neue „Warenwert“ bemisst sich in intakten Eierstöcken.

Motor der Handlung. Insgesamt treiben weibliche Figuren die Handlung voran. Besonders Elisabeth Moss („Mad Men“, „Top of the Lake“) beeindruckt in jedem Close-Up. Wo bereits eine zu unehrerbietige Verbeugung fürchterliche Konsequenzen haben kann, genügen ihr Blicke, um Abscheu, Verzweiflung oder den Willen zum Widerstand auszudrücken. Ihre Antagonistin ist Serena Waterford, unberechenbare Ehefrau des Kommandanten. Yvonne Strahovski gibt ihr eine distinguierte Strenge, die urplötzlich in Gewalt umschlagen kann. In der zweiten Staffel deutet sich nicht nur eine fragile, feministische Zweckgemeinschaft zwischen ihr und June an. Die Handlung entfernt sich von der literarischen Vorlage, enthüllt Details über die Vorgeschichte einzelner Figuren und lässt Hoffnung auf eine Revolution keimen.

In Puncto Diversität wäre noch mehr möglich. Zwar gibt es immerhin zwei Schwarze Protagonist_innen, und homosexuelle Beziehungen aus der Zeit vor Gilead werden als liebevoll und selbstverständlich dargestellt. Die Führungsriege in Gilead ist allerdings ausnahmslos weiß und alle noch fruchtbaren Frauen entsprechen – so ein Zufall – dem gängigen Schönheitsideal. Das ist das kleine Manko dieser sehenswerten, aber schwer verdaulichen Serie. „The Handmaid‘s Tale“ taugt nicht für chipsmampfenden Eskapismus auf der Couch, aber wer einmal hingesehen hat, wird kaum mehr wegschauen können.

Erschienen in: an.schläge V/2018

Gattungsgrenzen sprengende Dokumentarfilme

Seit den ersten dokumentarischen Szenen der Filmgeschichte vor gut 120 Jahren hat sich der Dokumentarfilm als Gattung ausdifferenziert. Von Dziga Vertovs agitatorisch-experimenteller „Kino-Pravda“ über das französische Cinéma Vérité und das US-amerikanische Direct Cinema der 1960er, bis hin zu Essayfilmen im Stile Harun Farockis und den Mockumentarys eines Michael Moore. Entsprechend viele Definitionen gibt es heute. Neben der Non-Fiktionalität ist ein allgemein an Dokumentarfilme gerichteter Anspruch, wirklichkeitsnah oder authentisch zu sein. Mit Objektivität hat das nichts zu tun, denn Dokumentarfilme präsentieren stets einen bewusst gewählten Ausschnitt der Realität.

Im Oktober starten zwei die dokumentarische Form strapazierende Filme in den Kinos. Die österreichische Regisseurin Ruth Beckermann analysiert in „Waldheims Walzer“ die Affäre um den Ex-UN-Generalsekretär Kurt Waldheim. Während dieser 1986 um das Amt des österreichischen Bundespräsidenten kandidierte, traten Lücken in seiner Kriegsbiografie zutage. Konfrontiert mit dem Vorwurf mutmaßlicher Kriegsverbrechen, verstrickte sich der Kandidat in Widersprüche und zog sich auf die Position soldatischer Pflichterfüllung zurück. Er wurde zwar gewählt, blieb aber während seiner Amtszeit international isoliert. Die Causa Waldheim führte dazu, dass Österreich den Mythos, erstes Opfer der Nationalsozialisten gewesen zu sein, aufzuarbeiten begann. Beckermann war selbst Teil  der Anti-Waldheim-Proteste und somit persönlich involviert. Sie montiert eigenes Material und solches aus Archiven, um den Wahlkampf spannend wie einen Politthriller darzustellen. In Kombination mit ihrem retrospektiven Off-Kommentar wird der Kompilationsfilm so zu einer universellen Erzählung über die Mechanismen von Populismus, Fake News und das Schüren von Ressentiments, die wir 2018 mit der AfD oder Trump assoziieren.

Auch für Regisseurin Bernadett Tuza-Ritter wurde der Dreh zu „Eine gefangene Frau“ persönlich. Sie begleitete Marish, die in Ungarn als Haussklavin in einer Familie arbeiten muss. Ihr Lohn für nächtliche Fabrikarbeit wird ihr abgenommen, tagsüber erledigt sie den Haushalt. Zum Dank wird sie physisch wie psychisch misshandelt. Modernes Sklaventum dieser Art ist in Europa übrigens kein Einzelfall. Im Verlauf des Films fasst Marish aber Mut zu fliehen und baut sich ein selbstbestimmtes Leben auf. Wäre dies auch ohne die Präsenz der Kamera geschehen? Wurde das Umdenken durch das Reflektieren der eigenen Situation im Verlauf der Dreharbeiten motiviert? Hat die Regisseurin in die Realität eingegriffen und falls ja: Wie hätte sie es denn nicht tun können? Diese Fragen und eine extrem mutige Protagonistin machen „A Woman Captured“ zu einem spannenden Seherlebnis.

Der sowjetische Filmemacher Sergei Eisenstein sagte einmal: „In einem guten Film geht es um die Wahrheit, nicht um die Wirklichkeit.“ Ob die beiden ungewöhnlichen Werke diesem Credo gerecht werden, finden Sie am besten selbst im Kino heraus.

Dieser Text erschien im trailer ruhr-Magazin 10/18 und online auf:
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Premiere von „HeimatKino – Kinokultur im Ruhrgebiet“ am 7.10. in Schauburg Gelsenkirchen

Der Kern des Kinos

Gelsenkirchen, den 7.10.: Fast jeder Mensch erinnert sich daran, wann er oder sie das erste Mal im Kino gewesen ist oder zumindest an das erste besondere Kinoerlebnis. Das hat mit dem dort gesehenen Film zu tun, aber auch mit der Atmosphäre: Schummriges Licht, schwere Samtvorhänge, gepolsterte Sitzreihen, abebbende Gespräche, die in erwartungsvolle Stille übergehen in dem Augenblick, wenn sich der Vorhang öffnet. Das Publikum ist bereit, sich für einen bestimmten Zeitraum in eine andere Welt entführen zu lassen und vielleicht sogar in etwas einzigartiges, völlig neues einzutauchen. Diese Magie des Kinos hat sich in den gut 120 Jahren seines Bestehens technisch zwar massiv verändert, die Formel ist im Kern aber gleich geblieben: Menschen lassen sich in einem dunklen Raum auf ein kollektives Seherlebnis ein.

Die Regisseure Daniel Huhn, Benjamin Leers und Stefan Kreis spüren mit ihrem Film „HeimatKino“ dieser Magie ebenso nach wie den Orten, an denen sie sich entfaltet hat und weiterhin abspielt. Chronologisch führt uns der 55-minütige Dokumentarfilm durch die Geschichte der Lichtspielhäuser der Region. Was mit den ersten Filmvorführungen im 19. Jahrhundert, damals noch als Jahrmarktsattraktion in Kneipen, beginnt, entwickelt sich zu einem boomenden Geschäft.

Nach 1945 lagen hier auch die meisten Kinos in Schutt und Asche, wurden aber wieder aufgebaut und läuteten eine goldene Ära ein. Wer ein hartes Leben hatte, flüchtete für kleines Geld ins Kino. Bald hatte jeder Vorort sein eigenes Filmtheater, zur Hochzeit waren es 500 allein im Ruhrgebiet. In den 1950ern konnten die Kinobetreiber die Eintrittsgelder „Mit der Schubkarre rausfahren“, wie Marianne Menze, heute Leiterin der Essener Lichtburg, erklärt. Historische Hintergründe liefert auch der gebürtige Essener Dietrich Leder, Professor der Kunsthochschule für Medien Köln. Andere Zeitzeugen berichten von dem ersten Kino, das in ihrer Straße eröffnete. Weiter erzählt „HeimatKino“ von der aufkommenden Konkurrenz des Fernsehens, der Gründung kommunaler Kinos und der Ära der Multiplexe bis in die Gegenwart. Heute sind von den 500 Lichtspielhäusern noch 50 Kinos übrig.

Wer kinotechnisch im Ruhrgebiet sozialisiert wurde, wird vor allem die kurzen Porträts der sieben Kinos bzw. Filmclubs wertschätzen, die auch Poträts ihrer BetreiberInnen sind. Wie im Fall des Essener Autokinos DriveIn oder der Postkutsche in Dortmund Aplerbeck präsentieren sie sich wie hartnäckige, kleine Inseln, am Leben erhalten durch überzeugte IdealistInnen. Andere wie das sweetSixteen in Dortmund haben sich etabliert und ein Stammpublikum für sich eingenommen, dass nicht nur das sorgfältig kuratierte Programm, sondern auch die persönliche Ansprache schätzt. Das Filmforum Duisburg behauptet sich als ältestes, kommunales Kino und ist gleichzeitig ein Ort, der Filmgeschichte dokumentiert und archiviert. Oder sie stehen – wie das Metropolis im Bochumer Hauptbahnhof – zumindest durch ihren Standort für eine längst vergangene Ära wie die der Bahnhofskinos mit ihrem durch B-Movies geprägten, non-stop laufenden Programm. Diesem Repertoire hat sich auch der geheimnisvolle Filmclub Buio Omega verschrieben, der jeden dritten Samstag im Monat ab 11 Uhr dem abseitigen, trashigen Film huldigt. Der Motor all dieser Orte ist Idealismus, der auch andere, in „HeimatKino“ nur angedeutete Kinos auszeichnet. Ob das endstation Kino im Bahnhof Langendreer, Astra, Eulenspiegel und Filmstudio in Essen oder Roxy und Schauburg in Dortmund.

Mit der Schauburg Gelsenkirchen findet die Premiere von „HeimatKino“ an einem würdigen Ort statt. Der große Saal ist nicht komplett, aber doch sehr gut gefüllt. Vor dem Screening führt Markus Köster, Leiter des LWL Medienzentrum für Westfalen, in den Abend ein und freut sich „Film zu erleben, wo er hingehört“. Köster erklärt außerdem, dass „HeimatKino“ auch in der schulischen Bildung zum Einsatz kommen wird. Wie nötig es ist, auch Jugendliche für Kino zu begeistern, zeigt sich auch im Altersdurchschnitt des Publikums. Das an die Vorführung anschließende Filmgespräch dreht sich passend dazu um die Frage, wie die Zukunft des Kinos aussehen wird.

Eine Frau wünscht sich beispielsweise im Revier mehr Filmfestivals als zeitlich und räumlich verdichtetes Kinoerlebnis: „Es schadet ja nicht, auch mal ein einen ganzen oder mehrere Tage in einem Kinosaal zu verbringen“. Eine kaum 18-Jährige denkt laut darüber nach, warum Kino bei ihren AltersgenossInnen nicht mehr so in ist und stellt fest, noch gar nicht alle Ruhrgebietskinos mit Programmen abseits des Mainstreams zu kennen.

Zum Abschluss fragt Daniel Huhn, ob jemand im Publikum beschreiben könne, was den Kern des Kinos ausmache. Schließlich meldet sich ein Mann mittleren Alters: „Sich bewusst an einen Ort zu begeben, wo man sich im Dunkeln ohne Ablenkung durch äußere Einflüsse für eine gewisse Zeit auf einen Film einlässt, diesen mit anderen gemeinsam ansieht und danach darüber spricht. Das ist für mich der Kern des Kinos.“ Dieses Statement und das gesamte Projekt „HeimatKino“ machen Lust, die besondere Kinokultur des Ruhrgebiets für sich zu entdecken und all den FilmenthusiastInnen zwischen Dortmund und Duisburg mindestens einen Besuch abzustatten. Solange es sie gibt, ist es um die Zukunft des Kinos gut bestellt.

Die Einzelporträts sind auf den Kinoseiten bei trailer-ruhr.de zu finden. Auf großer Leinwand werden sie im Wintersemester 2018/19 im Studienkreis Film der Ruhr-Universität Bochum als Vorfilm zu sehen sein: www.skf-kino.de
Weitere Infos unter: heimatkino.ruhr

Der Artikel ist Online unter der Rubrik „Foyer“ erschienen auf www.trailer-ruhr.de

Wechselwirkungen: HIV und Aids in der Filmgeschichte

Filme greifen gesellschaftliche Stimmungen auf und können ihrerseits den öffentlichen Diskurs beeinflussen. Ein Beispiel dafür ist Jonathan Demmes Drama „Philadelphia“ aus dem Jahr 1993. Tom Hanks erhielt für seine Verkörperung des aidskranken Anwalts, der gegen seine Entlassung klagt, seinen ersten Oscar. Aus der schwulen Community kam seinerzeit Kritik: an der heterosexuell besetzten Hauptfigur und der ohne die Andeutung sexuellen Begehrens inszenierten Liebesbeziehung zwischen Hanks‘ Figur und seinem Partner (gespielt von Antonio Banderas). Dennoch veränderte die erste Hollywood-Produktion zum Thema die Darstellung homosexueller Beziehungen im Mainstream-Kino sowie den gesellschaftlichen Dialog über Aids.

„Philadelphia“ war aber nicht der erste Film, in dem Aids thematisiert wurde. Schon 1984 wurde Manfred Salzgeber auf „Buddies“ von Arthur Bressan Jr. aufmerksam, der zu einem  frühen Zeitpunkt Vorurteile und Irrtümer rund um HIV und Aids aufgriff. Kein deutscher Verleiher traute sich an den Vertrieb, woraufhin Salzgeber selbst einen Verleih gründete und „Buddies“ 1985 in die westdeutschen Kinos brachte. Heute ist Edition Salzgeber der Traditionsverleih für queeres Kino in Deutschland. Bill Sherwoods „Parting Glances“ von 1986 (Steve Buscemi in seiner ersten Hauptrolle) und „Longtime Companion“ von Norman René (1989) waren zwei weitere, einfühlsame Filme zu der Thematik, an der viele der Pioniere persönliches Interesse hatten. Arthur Bressan Jr., Bill Sherwood, Manfred Salzgeber und Norman René – alle starben an den Folgen von Aids.

Erst seit den späten 1990er Jahren kam im Kino die Botschaft an, dass Aids nicht ausschließlich schwule Männer, Drogensüchtige und Prostituierte, sondern alle Menschen betrifft. In Larry Clarks Independent-Aufreger „Kids“ (1995) wird HIV durch heterosexuellen Sex übertragen, in Almut Gettos „Fickende Fische“ (2002) ist der Protagonist durch eine Bluttransfusion HIV-positiv. Kommerziell und bei der Kritik erfolgreiche Produktionen der letzten Jahre wie „Dallas Buyers Club“ (2013) oder „120 BPM“ (2017) werfen mit ebenso spannend wie emotional erzählten Geschichten den Blick zurück auf die frühe Aids-Ära und zeugen von der allmählichen Historisierung des Themas.

Aktuell ist in den Kinos Carla Simóns einfühlsames Debüt „Fridas Sommer“ zu sehen, in dem eine Sechsjährige 1993 nach dem plötzlichen Tod der Mutter zur Familie ihres Onkels ziehen und neben der Trauer auch Vorurteile und Ausgrenzung bewältigen muss. Denn es ist unklar, ob Frida sich bei ihrer Mutter angesteckt hat. HIV muss hier nicht explizit erwähnt werden. Die Zeit, in der die Geschichte spielt und die Panik anderer Eltern, als Frida sich beim Spielen das Knie blutig schrammt, rufen die fast 40-jährige Geschichte von HIV und Aids in unserem kollektiven Gedächtnis auf.

Heute ist die Krankheit gut therapier-, jedoch nicht heilbar, Neuinfektionen gibt es nach wie vor. Medizinische Aufklärung bleibt daher wichtig. Seit Ausbreitung des Virus vor fast 40 Jahren haben sich aber Vorurteile und Diskriminierung verringert und das Verständnis für Betroffene ist deutlich empathischer. Davon zeugt die Entwicklung der Darstellung von Aids im Film. Andersherum dürften die Filme zum Thema einen Anteil an dieser positiven Entwicklung gehabt haben.

Dieser Text erschien im trailer ruhr-Magazin 08/18 und online auf:
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Premiere von Kerstin Poltes „Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?“ in Essener Lichtburg am 2.5.18

v.l.n.r.: Meret Becker, Annalee Ranft, Kerstin Polte, Karl Kranzkowski Foto: Maxi Braun

Essen, den 2.5.: Es gibt diese Momente, in denen uns ein Mensch auffällt. Weil er aus der Masse heraus sticht oder abseits alleine steht. Wir beobachten diese Person, studieren ihre Haltung, ihre Mimik und etwas fesselt uns an der Art, wie er oder sie ein Buch, ein Bier oder eine Zigarette hält. Wenn sich dann die Blicke kreuzen und wir den Mut fassen, ein Gespräch zu suchen, versuchen wir dem Gegenüber telepathisch einzuflüstern: Bitte, sag oder tue jetzt nichts, was diesen ersten, magischen Eindruck zerstört.

Ein ähnliches Gefühl wie dieses Flirtszenario erzeugt auch Kerstin Polts Debüt-Spielfilm „Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?“. Es ist einer dieser Filme, die man von Anfang an mögen will. Liebevolle Opening Credits, ein schmissiger Song, wohl komponierte Einstellungen, die einen emotional und ästhetisch auf das vorbereiten, was kommt. Und auch während dieser Exposition hoffen wir inständig, dass der erste, positive Eindruck nicht zerstört werden möge. Diese Hoffnung setzt in diesem Fall unterbewusst schon vor der Filmvorführung ein. Die Regisseurin und HauptdarstellerInnen Meret Becker, Karl Kranzkowski und Annalee Ranft nehmen sich Zeit auf dem roten Teppich, machen Faxen vor der Fotowand, wirken bodenständig, sympathisch. Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen posiert mit seinem Mann Davi Lüngen, Joachim H. Luger (besser bekannt als Hans Beimer aus der „Lindenstraße“) versucht sich mit Sonnenbrille vorbei zu schleichen.

Im Saal berichtet Maximilian Leo von der Produktionsfirma „Augenschein“, dass es über sieben Jahre vom Exposé auf seinem Tisch bis zur Realisation des Films gedauert habe, der schließlich in nur 25 Drehtagen auf Fehmarn mit viel Herzblut abgedreht wurde. Thomas Kufen bescheinigt der Regisseurin, alles richtig gemacht zu haben: „Sie feiern die Premiere im größten und schönsten Kino Deutschlands“. Im Mittelpunkt des Films steht Charlotte (Corinna Harfouch), die nach mehr als 37 Jahren Ehe mit ihrem Mann Paul (Karl Kranzkowski) nicht nur unter der Routine leidet. Charlotte vergisst immer mehr und fürchtet sich davor, gänzlich zu verschwinden. Weder ihrem Mann, noch ihrer chaotischen Tochter Alex (Meret Becker) oder ihrer Enkelin Jo (Annalee Ranft) vertraut sie sich an. Als sie Paul spontan an einer Autobahnraststätte stehen lässt und mit Jo zu einem Abenteuertrip aufbricht, setzt der impulsive Befreiungsakt erst die Handlung in Gang.

In „Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?“ werden eine Vielzahl von Themen gleichermaßen tiefgründig wie leichtfüßig verhandelt: Es geht ganz praktisch um Krankheit, Alter, allein erziehende Mütter, rebellische Töchter, die Tücken des Alltags eben. Auf einer Metaebene streift die Regisseurin aber die ganz großen Themen…

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Vorbericht: 64. Internationale Kurzfilmtage Oberhausen

Meine erste Begegnung mit dem „anderen Kino“ hatte ich 2007, als der Studienkreis Film an der Ruhr-Universität Bochum sein 40-jähriges Jubiläum feierte. Plötzlich sah ich mich im Hörsaal-Kino einem riesigen Penis gegenüber, der ein Filmfördergesetz zitiert und danach herzhaft ejakuliert. Dabei handelte es sich um Hellmuth Costards Film „Besonders wertvoll“. Dieser wurde 1968 ob seiner Anstößigkeit nach Einspruch der Staatsanwaltschaft aus dem Programm der (damals noch) Westdeutschen Kurzfilmtage Oberhausen genommen, guerillamäßig nach Bochum transportiert und in dem kurz zuvor gegründeten Filmclub gezeigt. Costard war Teil eben jener Experimentalfilm-Bewegung, die das Medium vom Kino und seinen klassischen Konventionen befreien und eigene Spielorte und Festivals kreieren wollte. Wichtige AkteurInnen neben Costard waren Lutz Mommartz, Hartmut Bitomsky, Harun Farocki oder Werner Nekes und Dore O. Mit diesem „anderen Kino“ beschäftigt sich auch das Thema der 64. Ausgabe der Kurzfilmtage Oberhausen unter dem Titel „Abschied vom Kino. Knokke, Hamburg, Oberhausen (1967-1971)“. Hamburg war ein Hotspot der Bewegung, 1968 fand dort mit der „Hamburger Filmschau“ das erste unabhängige Festival statt. Das belgische Knokke war die Heimat des Experimentalfilmfestivals „Exprmntl“. In Oberhausen werden Arbeiten aus dieser Zeit gezeigt und mit AkteurInnen von damals diskutiert.

Das Festival wird in diesem Jahr außerdem um vier Sektionen reicher. Die erste, „Conditional Cinema“, versteht das bewegte Bild als fließende Kunstform, Mika Taanilas Projekt „live cinema“ ist der Auftakt. Neu sind auch die „Lectures“: Marisa Olson, Roee Rosen und Liam Young erhalten in dieser Sektion eine Carte blanche für ihre unterschiedlichen Ansätze Bewegtbilder zu präsentieren. Ebenfalls neu sind die Sektionen „Labs“ und „re-selected“, die beide gegen die Diktatur des Digitalen aufbegehren. Labs bietet Künstlerlaboren, die sich mit allen Bereichen des Analogfilms in der post-kinematografischen Ära beschäftigen, eine Plattform, „re-selected“ versteht Filmgeschichte als Kopiengeschichte.

Seit bereits 20 Jahren fester Bestandteil ist die MuVi-Sektion. Neben dem abendfüllenden Programmblock internationaler Musikvideos kann noch bis zum 5. Mai online für das beste deutsche Musikvideo gevotet werden. Weiblich dominiert sind in diesem Jahr die Profile. Von Fotografin und Filmemacherin Louise Botkay, den Regisseurinnen Eva Könnemann aus Deutschland und Salomé Lamas aus Portugal und dem rumänischen KünstlerInnen-Duo Florin Tudor und Mona Vatamanu werden kleine Werkschauen präsentiert. Hinzu kommen fünf Wettbewerbsprogramme, in denen 132 Kurzfilme und Musikvideos zu sehen sind. Insgesamt warten über 500 Filme aus mehr als 60 Ländern in Oberhausen darauf, entdeckt zu werden. Und wer weiß, vielleicht ist ja auch das ein oder andere gesprächige Genital dabei, das Filmgeschichte schreiben wird.

Der Artikel ist erschienen im trailer-Magazin 05/18 und auf www.trailer-ruhr.de.

Netflix gebingewatched, geweint: Wer entscheidet, wofür Filme gemacht werden?

Bekanntlich schlagen die Bäume erst im Mai aus, in Cannes wird aber schon seit März kräftig ausgeteilt. Das mag am mediterranen Klima der Côte d’Azur liegen, vielleicht auch an einer frühlingsgefühlsbedingten Testosteronwallung der Alphahengste Thierry Frémaux und Ted Sarandos. Denn neben Selfies am Roten Teppich und exklusiven Presse-Screenings für JournalistInnen fällt auch Netflix in diesem Jahr an der Croisette aus.

Festivaldirektor Frémaux entschied, dass 2018 nur noch Filme im Wettbewerb laufen, die auch in französischen Kinos starten. Der Abstand zwischen Kinostart und Streaming-Verwertung muss laut französischem Recht aber mindestens 36 Monate betragen – und so lange wollte Ted Sarandos, Chief Content Officer von Netflix, nicht warten und zog beleidigt alle Netflix-Produktionen vom Festival zurück. Außer Konkurrenz oder in einer anderen Sektion? Nicht mit ihm. Aus cinephiler Sicht ist das ein Verlust, denn das Breivik-Biopic „Norway“ von Paul Greengrass, „Hold the Dark“ von Jeremy Saulnier und Alfonso Cuaróns „Roma“ werden wohl nie in einem Kino zu sehen sein. Das könnte auch für Orson Welles‘ unvollendeten „The Other Side of the Wind“ von 1972 mit John Huston, Peter Bogdanovich und Susan Strasberg gelten, für den Netflix 2016 die Rechte erwarb. Die aufwendig restaurierte Fassung sollte in Cannes Premiere feiern. Allerdings: Cannes ist ohnehin kein Publikumsfestival und uns bleibt immer noch der Stream.

Spannender ist der Konflikt wegen der grundlegenderen Frage, um die es eigentlich geht: Wer hat die Definitionsmacht darüber, was Kino ist? Hier stehen sich der US-amerikanische VoD-Anbieter und Cannes als Verfechter unterschiedlicher Auffassungen von Filmkultur gegenüber. Netflix kommt aus dem Land, das Film in erster Linie als massenkompatibles Konsumprodukt versteht. Cannes hingegen gilt als exklusiv und sogar elitär, ein Palm d‘Or-Gewinner muss nicht notwendig auch beim Publikum ankommen. Das Festival rühmt sich nicht zu Unrecht, Film als Kunstform gegen rein kommerzielle Marktmechanismen zu verteidigen. Andersherum wird seelenloser Glamour auch in Cannes nicht kleingeschrieben und Netflix‘ Eigenproduktionen können ein Hort für Innovation sein. Spielfilme wie Dee Rees „Mudbound“ oder Noah Baumbachs „The Meyerowitz Stories“ (der 2017 noch in Cannes lief) sind dafür ebenso Beweis wie die Netflix-Serien, die oft etwas genuin Filmisches haben. „Stranger Things“ feiert das Kino der 1970er/80er Jahre in jeder Einstellung und die Mystery-Serie „Dark“ wirkte als erste deutsche Produktion mal nicht wie ein „Tatort“ oder Fernsehspiel.

Dennoch: Für Netflix ist Film eine Kunstform, die auf dem heimischen Flatscreen oder gar dem Smartphone ebenso funktioniert wie auf der großen Leinwand. Aber der Streit um das Kino als Ort, für den Filme gemacht werden, wird nicht erst seit Erfindung von VHS und DVD geführt und diese Debatte ist nicht die letzte. Auch Amazon-Produktionen laufen auf Festivals und im Kino, Disney strebt eine eigene Streaming-Plattform an und es wird gemunkelt, sogar Facebook verfolge Streaming-Ambitionen. Wie sich die Kunstform, das Kulturgut und das Geschäftsmodell Kino entwickeln wird, bleibt spannend. Und immerhin haben wir als Publikum mit unseren Sehgewohnheiten da auch noch ein Wort mitzureden.

Dieser Text erschien  im trailer ruhr-Magazin 05/18 und online auf:
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