Medienwissenschaftlerin Jutta Zaremba über Gender in Videospielen & Gamerinnen

Frau Zaremba, zocken Frauen anders als Männer?
Jutta Zaremba: Die Gretchen-Geschlechterfrage… Man kann das höchstens grob beantworten, weil es nicht DIE Spielerin gibt. Wir reden hier von einer Altersspanne zwischen circa 8 bis 80 Jahren! Bislang zeichnen sich eher einige bei Mädchen und Frauen beliebtere Games-Genres ab, zum Beispiel Lebenssimulationen wie „SIMS“, Rollenspiele wie „Final Fantasy“, Action-Adventures wie „American McGee‘s Alice“ oder Musik- und Bewegungsspiele wie „SingStar“ oder „Wii“. Gleichzeitig gibt es auch zahlreiche E-Sportlerinnen, die sich in Teams zusammenschließen, um intensiv und im Wettbewerb Shooter zu spielen.

Spielen Frauen weniger, weil sie Games weniger interessieren oder interessieren sie die Games nicht, weil sie darin nicht repräsentiert werden?
Das unterstellt ja, dass Frauen weniger gamen, was nicht stimmt! In der BRD sind fast die Hälfte aller Spielenden weiblich, in den USA ungefähr 41 Prozent. Und es spielen übrigens mehr Frauen über 18 Computerspiele als Jungen unter 18. Für ganz entscheidend halte ich das Stichwort „bedroom culture“. Das ist ein Begriff, den die britische Theoretikerin und Feministin Angela McRobbie 1975 zum Thema „Girls and Subcultures“ ins Spiel gebracht hat: Es kommt darauf an, in welcher grundsätzlichen Spielekultur man aufgewachsen ist, durch welche Spiele, Spielsachen und Spielformen man also seit der Kindheit geprägt ist.

Was macht eine emanzipierte, feministische Protagonistin aus?
Wie sieht denn Ihre Wunschvorstellung aus? Diese Frage wird seit fast 20 Jahren von Frauen aus dem Gaming-Umfeld diskutiert und zeigt, dass die jeweilige Perspektive die Vorstellungen bestimmt. Das businessorientierte US-Portal „Womengamers“ hat Bewertungen von Protagonistinnen vorgenommen, nach folgenden Aspekten: Ihre Rolle im Computerspiel (zentral und aktiv oder nur erotische Nebenfigur), ihr Standing dem Geschehen gegenüber, ihr Stehvermögen im Kampf, ihr Aussehen, ihre Intelligenz und Stimme sowie Vermarktungsversuche des Spiels hinsichtlich Spielerinnen.

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Das ganze Interview ist erschienen auf www.choices.de

 

Kritik zu „Manifesto“ mit Cate Blanchett (R: Julian Rosefeldt, 2017)

Audiovisuelle Partitur

„I do manifest because I have nothing to say“ – dieser Satz aus Julian Rosefeldts ursprünglich als 13-Kanal-Installation für Museen konzipiertem Werk „Manifesto“ ist durchaus augenzwinkernd gemeint. In der Installation schallt Cate Blanchett mehrstimmig in verschiedenen Rollen von zwölf Leinwänden herab.

In der linearen Kinofassung geht der polyphone Rausch verloren, dafür bleibt Zeit, in die von Kameramann Christoph Krauss vorwiegend on location in Berlin komponierten Sequenzen einzutauchen. Die Monologe, die Blanchett u. a. als Nachrichtensprecherin, Obdachlose, Puppenspielerin, Punk oder Brokerin proklamiert, bestehen aus gekürzten und neu editierten Manifesten aus den Bereichen der bildenden Kunst, Architektur, Literatur und Film. Einige der rezitierten Statements zu Dada, Futurismus, Fluxus oder Dogma korrespondieren mit den Settings. Andere funktionieren als ironischer Kommentar zu den Situationen, die gleichermaßen alltäglich wie fremdartig wirken.

Julian Rosefeldt vertraut dabei sowohl auf die künstlerische und literarische Kraft der einzelnen Texte als auch auf Cate Blanchett. In nur elf Drehtagen streifte sie sich mit Leichtigkeit unterschiedlichste Akzente, Gesten und diverse Habitus über. Statt Kunsttheorie in Bilder zu gießen, gelingt Rosefeldt eine audiovisuelle Partitur, die Lust macht, die Ursprungstexte – übrigens alle von Männern verfasst und daher bewusst durch eine Schauspielerin performed – aufzuspüren und deren Bedeutung für die Gegenwart selbst zu ergründen.

Zuerst erschienen in:  Missy Magazine

Sexualtherapeutin Silke Niggemeier über BDSM als erotische und sexuelle Praxis

Wann und wo beginnt die Geschichte von SM?
Silke Niggemeier
: In der Moderne und der westlichen Welt liegen die Ursprünge in der schwulen Leder-Bewegung in den USA der 1960er Jahre. Deswegen sind auch viele Begriffe aus dem Englischen übernommen worden. BDSM – was SM detaillierter beschreibt – steht für „Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism“. Darüber hinaus besteht eine historische Verbindung zur AIDS-Hilfe, mit der auch heute noch viele SM-Stammtische kooperieren. Abgesehen davon ist SM schon seit Jahrtausenden Teil der menschlichen Kultur, wie Quellen belegen.

Was muss bei Erotik und Sexualität im SM-Bereich beachtet werden?
Der Grundpfeiler ist Respekt. Danach kommt ein Credo, das auch aus der Leder-Schwulenbewegung stammt. Es lautet: Safe, Sane and Consensual, kurz SSC. Also sicher, bei geistiger Gesundheit und einvernehmlich. Mit Sicherheit ist dieselbe Sicherheit gemeint, die auch bei jedem anderen Date gilt. Wer sich als Top [dominanter Part, Anm. der Redaktion] oder als Sub [sich unterwerfender Part] in eine Spielsituation begibt und nicht dafür sorgt, dass er abgesichert ist, hat ein Problem mit Sicherheit ganz allgemein. Auch hier gilt: „Trau, schau wem!“

Wie sieht so eine Absicherung aus?
Indem mich eine dritte Person covered. Dazu informiere ich vorher diese Person darüber, wo ich hingehe und melde mich auch wieder ab, wenn alles vorbei ist. Damit ist sichergestellt, dass ich aus einer Spielsituation gesund herauskomme. Meine Kontaktperson kann auch zwischendurch anrufen und fragen, ob alles ok ist. Da kann dann ein Codewort vereinbart werden. Zum Beispiel: Wenn ich „Hey Mama“ sage, weiß mein Kontakt, dass ich Hilfe benötige. Außerdem kann man sich erst mal in der Öffentlichkeit treffen, etwa beim Stammtisch. Da kann ich auch beobachten, wie der/die gewünschte Partner*in auf bestimmte Themen reagiert und ob er oder sie überhaupt öffentlich in Erscheinung tritt, das eigene Gesicht zeigt. Prinzipiell ist jeder One-Night-Stand, bei dem Fremde miteinander Vanilla-Sex haben – also Sexualität ohne SM – ebenso riskant.

Über die Praxis hinaus, was unterscheidet SM noch von „Vanilla“-Sex?
Zum SM gehört mehr als zu jeder anderen Art von Sexualität oder Erotik Kommunikation. Reden, reden, reden! So schrecklich die „Fifty Shades of Grey“-Bücher sind, dort gibt es einen Vertrag zwischen dem Top und dem Sub. Solche Verträge, die die Regeln einer Spielsituation oder Beziehung beschreiben, gibt es tatsächlich, sie sind jedoch nicht rechtlich bindend. Im Internet finden sich unzählige Varianten davon und ich rate gern dazu, sich mit so einem Vertrag mal hinzusetzen und diesen als Basis für ein Gespräch zu nehmen, was die Partner voneinander wollen, brauchen und was eben gar nicht infrage kommt.

Ist der machtvolle Manager privat eher unterwürfig oder ist das nur ein Klischee?
Ich glaube, dazu gibt es keine Zahlen. Es ist ein Klischee, aber vielleicht nicht ohne Grund. Es gibt bestimmt den Manager, der sich auspeitschen lässt. Genauso wie es im Alltagsleben dominante Männer gibt, die auch in ihrem Sexualleben dominant sind. Ich kenne tatsächlich mehr Frauen in Verantwortungspositionen als Männer, die im SM Sub sind. Männer sind oft im Alltag ähnlich positioniert, wie in ihrer erotischen Rolle. Auch hier besteht ein Kontrast. Es sind meist sehr toughe Frauen, auf ihre Art Managerinnen, mit Doppelbelastung durch Familie und Berufstätigkeit, die im Alltag ständig ihren Mann stehen müssen und sich dann im privaten SM-Bereich fallen lassen können. Es ist der Spaß am Rollentausch, der selbst gewählt ist und daher als befreiend empfunden wird. Das ist für mich eine sehr emanzipierte Form von Erotik, bei der ich selbst entscheide, wann ich mich zum Spaß als „kleines Weibchen“ unterwerfe und wann ich in meinen Alltag zurückkehre, stark bin und mein Leben regiere.

Was ist mit Dominas?
Da muss zwischen klassischen Dominas und sogenannten Bizarr-Ladies unterschieden werden. Letztere haben meist auch sexuellen Körperkontakt. Klassische Dominas haben den mit ihren Kunden nicht. Da gibt es sehr tolle Frauen, die Workshops anbieten, Vorträge halten, hervorragend vernetzt sind und das privat leben. Gute Dominas benötigen viel Empathie, psychologische Grundkenntnisse und medizinisches Fachwissen um die menschliche Anatomie. Diese Kompetenzen einer guten Domina sind jeden Cent wert.

Das ungekürzte Interview ist zuerst erschienen auf trailer-ruhr.de.

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Ich bin dagegen: Besser unterstützen als boykottieren

Hoffen wir, dass das nur wieder eine seiner Phasen ist. So wie Ende der 1990er Jahre, als sich Daniel Day-Lewis für fünf Jahre aus dem Filmbusiness zurückzog, um sich in Italien dem Schuhhandwerk zu widmen. Denn der einzige Schauspieler, der bisher drei Academy Awards als bester Hauptdarsteller in Empfang nehmen durfte („Mein linker Fuß“, „There Will Be Blood“ und „Lincoln“), will seine Karriere nun beenden. Sein Abschiedsfilm soll „Der seidene Faden“ sein, in dem er an der Seite von Vicky Krieps einen Designer im London der 1950er Jahre spielt. Regisseur Paul Thomas Anderson versucht sich hier auch erfolgreich als Kameramann und schafft ein Werk voll altmodischer Eleganz und visueller Perfektion, zugleich unser Film des Monats.

Ein eher unfreiwilliges Karriere-Aus ereilt gerade Kevin Spacey. Im Strudel der #MeToo-Welle wurde er nicht nur aus der Netflix-Erfolgsserie „House of Cards“ geschmissen. Ridley Scott schnitt ihn zudem kurz vor der Premiere in einem Gewaltakt aus seinem neuen Werk „Alles Geld der Welt“, ersetzte ihn kurzerhand durch Christopher Plummer. An der Frage, ob solch statuierte Exempel etwas an der Situation von Frauen (und Männern, wie die Vorwürfe gegen Spacey zeigen) in Filmbranche und Gesellschaft ändert, scheiden sich die Geister, genauso wie an den prominentesten Beispielen Woody Allen und Roman Polanski. #MeToo hat den Kreis jetzt radikal erweitert, in Deutschland zum Beispiel um Dieter Wedel. Drei Ex-Schauspielerinnen werfen ihm im ZEIT Magazin sexuelle Nötigung vor. Dürfen Meilensteine des Kinos wie Allens „Manhattan“ oder Polanskis „Der Pianist“ trotz der gegen ihre Regisseure erhobenen Vorwürfe weiterhin gezeigt, geguckt und gemocht werden?

Sollten wir AutorIn und Werk nicht trennen? Wer entscheidet darüber, ob Vorwürfe stimmen, wenn Aussage gegen Aussage steht und die meisten sexuellen Übergriffe nie juristisch verhandelt werden? Welche/r KonsumentIn will da prophylaktisch boykottieren oder sich gar zum Richter aufschwingen? Hinzu kommt, dass erfolgreiche Boykotte niemals nur Einzelpersonen treffen, denn Film ist immer Teamwork. Und schert sich Hollywood überhaupt um das deutsche Publikum, das im Europavergleich eher kinofaul ist?

Ich habe darauf keine abschließende Antwort. Sinnvoller wäre es, bewusst Filme von Regisseurinnen und solche mit starken Frauenfiguren zu supporten. Im Februar zum Beispiel Barbara Alberts Historiendrama „Licht“, das sich der blinden Wiener Klaviervirtuosin Maria Theresia Paradis widmet. Diese lebte zwar im 18. Jahrhundert, das Biopic funktioniert bei Albert aber auch als Emanzipationsgeschichte einer Frau mit Behinderung. Oder der Rache-Western „Marlina – Die Mörderin in vier Akten“, der schon im Januar gestartet ist. Die indonesische Regisseurin Mouly Surya erobert damit eines der männlichsten Genres überhaupt. Titelheldin Marlina kann es nicht nur mühelos mit John Wayne aufnehmen, sondern wäre auch in einer Girls-Gang mit Beatrice Kiddo oder Shoshanna Dreyfus gut aufgehoben. Statt sich von vier Verbrechern ausrauben und vergewaltigen zu lassen, setzt sie sich zur Wehr und mutiert mit einem Kopf unter dem Arm zur Heroine aller unterdrückten Frauen Indonesiens. Nicht nur ein feministischer, auch ein cinematographischer Genuss und eine Abwechslung von den Sehgewohnheiten des westlichen Kinos.

Dieser Text erschien im trailer ruhr-Magazin 02/18 und online auf:
www.trailer-ruhr.de
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Filmscreening & Diskussion zu „Die sichere Geburt – Wozu Hebammen?“ von Carola Hauck

Die Geburt eines Kindes ist ein überwältigendes Erlebnis, sowohl für Mütter als auch Väter. Wenn ein neuer Mensch das Licht der Welt erblickt, ist dieses Ereignis begleitet von Glücksgefühlen, die kinderlose Menschen zwar erahnen, aber schwer fassen oder beschreiben können.

Die Geburt des ersten Kindes, die drei Mütter in Carola Haucks Dokumentation „Die sichere Geburt – Wozu Hebammen?“ schildern, könnte sich nicht stärker von diesem Idealbild unterscheiden. In Interviews – gemeinsam mit ihrem Partner oder allein – berichten sie von dem Trauma dieser Geburt. Da ist wie wohl bei allen Erstgebärenden die Unsicherheit einer völlig neuen Erfahrung: Wie schlimm werden die Schmerzen sein? Wie lange wird es dauern? Und vor allem: Wird alles gut gehen, mit mir und dem Kind?

Die Frauen schildern, wie sie nach dem Blasensprung in der Klinik ankamen, alleine blieben mit unheilvoll piependen CTGs und schmerzenden Venenzugängen im Arm. Sie erzählen, wie sich anfängliche Nichtbeachtung in Ungeduld der Beleghebammen und ÄrztInnen wandelte. Sie berichten von der PDA, die sie nicht wollten und die ihren Unterkörper derart lähmte, dass sie kein Gefühl und keine Verbindung zu den Wehen und dem eigenen Körper spürten. Sie erinnern sich, wie ihre Wünsche nach einer natürlichen Geburt einfach übergangen und als unzurechnungsfähige Phantastereien abgetan wurden – ohne dass eine medizinische Indikation das nötig gemacht hätte.

Die Krankenhäuser, in denen diese Frauen ihr erstes Kind zur Welt gebracht haben, sind keine Kliniken aus einem Horrorfilm, das Personal nicht grausam oder sadistisch. Aber zwischen überarbeitetem Personal, reglementierten Abläufen und forensischen Unsicherheiten und der Ausnahmesituation der Mütter, klafft ein tiefer Graben. Hauck will nicht die medizinischen Errungenschaften wie PDA oder Kaiserschnitt verteufeln. Sie geht der Frage nach, was Geburten sicher macht, wodurch eine Geburt gestört wird und welche Folgen sogenannte Interventionen während der Geburt (Verabreichung wehenhemmender und weheneinleitender Mittel, Kaiserschnitt, Zangen- oder Saugglockengeburt) für Mutter, Kind und die Gesellschaft haben können.

Neben den eindrücklichen und sehr intimen Erlebnissen der Mütter kommen auch ExpertInnen zu Wort, die es anders machen. Darunter die mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnete, „bekannteste Hebamme der Welt“ Ina May Gaskin oder Rainhild Schäfers, Professorin für Hebammenwissenschaft an der Hochschule für Gesundheit Bochum. Dazu kommen Neonatalogen, Perinatologen und ein Ostheopath. An anatomischen Modellen und in Trickfilmanimationen wird gezeigt, welche Interventionen während der Geburt möglich und oftmals nur vermeintlich notwendig sind.

Erschreckend ist dabei für Laien, wie viele medizinische Erkenntnisse bei der Mehrzahl der Geburten, von denen 98 % in Krankenhäusern stattfinden, scheinbar ignoriert werden….

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Der Artikel ist erschienen auf www.trailer-ruhr.de

Interview mit Klimaforscher Felix Ekardt über die Herausforderungen eines nachhaltigen Lebensstils

Herr Ekardt, wir sägen mit unserem Lebensstil an dem Ast, auf dem wir sitzen. Warum fällt es uns so schwer, nachhaltiger zu leben?
Felix Ekardt: Viele denken, es würde am Wissen scheitern, das stimmt aber nur begrenzt. Die, die am meisten wissen, haben tendenziell den größten ökologischen Fußabdruck.  Menschen sind häufig von Eigennutzenkalkülen getrieben, Politiker wollen kurzfristig wiedergewählt werden, Unternehmer wollen ihre Produkte absetzen. Wir alle wollen hier und heute unser Leben leben. Da sind der Klimawandel oder Nachhaltigkeitsziele zeitlich weit weg.

Wir handeln also bewusst wider besseren Wissens?
Was oft vergessen wird: Menschen entscheiden nicht immer bewusst und kalkulierend. Ein Großteil unserer Verhaltensantriebe ist uns wenig oder gar nicht bewusst. Das betrifft etwa unsere Normalitätsvorstellungen. Ein Lebensstil mit der täglichen Autofahrt zur Arbeit, regelmäßigen Urlaubsflügen und einem großen Stück Fleisch ist in Ländern wie Deutschland normal. Dazu kommen unsere Emotionen: Bequemlichkeit, Gewohnheit, Verdrängung. Eine Rolle spielt auch die menschliche Neigung, mit dem Widerspruch zwischen Einstellungen und Verhalten zu leben. Wir reden uns das Ganze schön, fühlen uns in Europa und Deutschland als Umweltvorreiter, dabei sind wir genau das Gegenteil.

Von wem geht Wandel aus?
Gesellschaftlicher Wandel geschieht immer in einem Wechselspiel verschiedener Akteure. Ob man jetzt in erster Linie eine andere Politik, ein anderes Konsumentenverhalten oder anders investierende Unternehmen braucht, ist eine Henne-Ei-Diskussion. Bestimmte Emotionen werden sich wohl nie ändern, aber Normalitätsvorstellungen können sich wandeln. Es muss nicht so sein, dass alle meine Facebook-Freunde jährlich nach Malaysia fliegen, ganz andere Normalitäten sind denkbar….

Das Interview ist erschienen im choices-Magazin 12/17 und auf www.choices.de 

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Interview mit Konflikt- und Gewaltforscher Prof. Andreas Zick über Streitkultur und Gesellschaftsdialog

Herr Zick, in Bezug auf den demokratischen Konflikt sprechen Sie von einer „Kultur der Provokation“. Was ist damit gemeint?
Andreas Zick: In der Konfliktforschung analysieren wir Konflikte zwischen verschiedenen Gruppen. Konflikte entstehen, wenn die unterschiedlichen Interessen von Gruppen aufeinanderprallen. Meist setzt eine Provokation eine Konfliktdynamik in Gang und diese ist eingebettet in eine Kultur, damit Konflikte regulierbar bleiben. Kulturen der Provokationen finden wir in vielen Konflikten, wie zum Beispiel politischen Debatten. Konflikte sollen ja eine Veränderung herbeiführen und die Provokation motiviert dazu, sich in Bewegung zu setzten. Das heißt, eine Gruppe oder Partei möchte mittels Provokation die andere dazu animieren, sich zu bewegen.

Hat sich diese Kultur der Provokation in den letzten Jahren verändert?
Sehr deutlich sogar. Gewissermaßen ist die Kultur der politischen Provokation erodiert, weil die Provokation an vielen Stellen der Wut und dem Populismus gewichen ist. Seit 14 Jahren führen wir am Bielefelder Institut für Gewalt- und Konfliktforschung große, repräsentative Umfragen zu gesellschaftlichen Konflikten durch. Dabei interessiert uns, ob und inwieweit auch Vorurteile und antidemokratische Meinungen in Provokationen einsickern. Uns interessiert, wer in der Gesellschaft abgewertet und ausgegrenzt wird, wie und warum solch menschenfeindliche Mechanismen entstehen. Das berührt auch den Zustand der Demokratie. In den Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung haben wir dann 2011 danach gefragt, wie rechtsextreme Strömungen in der Mitte der Gesellschaft verhaftet sind und ob das ein Beleg dafür ist, dass die Gesellschaft insgesamt antidemokratischer wird. Unsere Ergebnisse decken sich mit dem Empfinden, dass sich bestimmte politische Milieus erst polarisiert, dann radikalisiert haben. Die üblichen Provokationen weichen rechtspopulistischer und -extremer Agitation.

Durch rechtspopulistische Milieus?
Vor allem dort hat sich die Kultur der Provokation in eine des Widerstands verwandelt. Menschen, die rechtspopulistisch unterwegs sind, Kritik an den Eliten äußern und gegen alles Fremde argumentieren glauben, dass ihr Protest notwendige Provokation ist, um das System zu verändern. Die Provokation hat sich radikalisiert und verbunden mit einer Idee des Widerstandes gegen die Eliten, die das Volk angeblich nicht repräsentieren. Das wäre nicht neu, aber sie hängt zunehmend von Abgrenzungen vermeintlicher Fremder ab…

Das Interview ist erschienen im trailer-Magazin 01/18 und auf:
www.trailer-ruhr.de

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Projekt „Kultur@Gefängnis“ zeigt die Dokumentation „Fighter“ in der JVA Werl

Die Zuschauer stehen in kleinen Gruppen zusammen, unterhalten sich angeregt über das, was sie gerade gesehen haben. Es könnte der übliche Ausklang eines Kinoabends sein. Erst als ein JVA-Beamter die Gespräche  unterbricht wird klar, dass es sich hier um keine übliche Filmvorführung handelt. „Wir müssen jetzt zum Ende kommen“, sagt er bestimmt und zückt demonstrativ seinen Schlüsselbund.Das Projekt „Kultur@Gefängnis“ ist Teil der Dortmunder Plattform „Labsa“, bei der sich  internationale KünstlerInnen treffen. Projektleiterin Betty Schiel organisiert neben Filmabenden auch Workshops und andere Kulturveranstaltungen in Gefängnissen der Region. Für den Abend in der JVA Werl, eine Kooperation mit dem Kinofest Lünen, hat sie vorab mit der Insassenvertretung die Dokumentation „Fighter“ von Susanne Binninger ausgewählt.

Drei der Protagonisten des Films, Andreas Kraniotakes, Khalid und Mohammed Taha, sind ebenfalls vor Ort. Ihnen, Mike Wiedemann als Vertreter der Kinofests und der Presse wird hier kein roter Teppich ausgerollt. Mobiltelefone müssen im Auto bleiben, alles andere kommt in Schließfächer, die Kamerataschen dürfen gerade noch mit herein. Metalldetektor, Abtasten, dann wird der Tross Meter für Meter durch die Gänge der JVA geleitet. Massive Türen werden aufgeschlossen und hinter uns wieder verriegelt. Es geht vorbei an Zellen, in drei Stockwerken übereinander angeordnet, wie man es aus amerikanischen Gefängnisfilmen kennt.

Der älteste Raum der 1908 in Betrieb genommenen Haftanstalt, die Kapelle, dient als provisorisches Kino und ist mit ihren kunstvollen Holzsteelen, Kirchenfenstern und Marienbildern an der Wand ein Kontrast zu Mauern und funktionaler Architektur. Erst nach und nach kommen die rund 120 Insassen in den Saal, die sich für die Veranstaltung angemeldet haben. Ein paar Gedanken und Vorurteile schleichen mir durch den Kopf. Ich bleibe an einigen Gesichtern hängen, schaue mich misstrauischer um als die JVA-Beamten, die am Rand stehen. Sicherer als hier dürfte es in diesem Moment nirgendwo sein, das ungute Gefühl bleibt trotzdem.

„Fighter“ begleitet Kämpfer der deutschen Mixed Martial Arts-Szene (MMA) durch ihren Alltag. Die Regisseurin hat die Protagonisten mehrere Monate begleitet, Vertrauen aufgebaut. Wenn Lom-Ali Eskijew vor dem Wiegetag schmerzlich auf Süßigkeiten verzichtet und hungernd hofft, die letzten Kilos zu verlieren, ist sie ebenso nah dran wie bei Training und Wettkämpfen, wie bei Siegen und Niederlagen….

….weiter geht es hier: Der vollständige Text ist auf www.trailer-ruhr.de erschienen.

Harald Welzer bei der LiteraturBüro Ruhr-Reihe „Über Leben“ im Ringlokschuppen

Es ist kurz vor acht, als Harald Welzer eintrifft. Mit einer Abendbrotstulle im Mund quetscht er sich an den Menschen vorbei, die auf den Einlass warten. Als sich die Türen öffnen, drängen alle gleichzeitig in den Saal. Die Mitarbeiterinnen des Ringlokschuppens bitten höflich um die Karten und haben Mühe bei der Öffnung der zweiten Flügeltür. Sehr viele sind gekommen, um den Sozialpsychologen und Publizisten für eine offene Gesellschaft plädieren zu hören. Geduldig oder rücksichtsvoll sind sie selber nicht.

Gerd Herholz, Leiter des LiteraturBüro Ruhr, hält die Vorstellung des Gastes kurz und bündig. Welzer passt nicht nur aufgrund seines aktuellen Buches „Wir sind die Mehrheit. Für eine offene Gesellschaft“ gut in die LiteraturBüro Ruhr-Reihe „Über leben! Von der Hoffnung auf Zukunft“, die der Anlass der Lesung ist. Er ist außerdem Mitbegründer der Plattform „Initiative offene Gesellschaft“ und der politischen Zeitschrift „futurzwei“. Mit beiden kämpft er um das Überleben der Demokratie, die seiner Meinung nach in Gefahr ist.

Die Demokratie und unser Verständnis davon werden angegriffen, in einem Maße, wie wir es uns nach fast 70 Jahren Frieden nicht haben vorstellen können. Dafür braucht es keinen Putsch oder die „Rückkehr der Wahnsinnigen“, wie Welzer Erdogan oder Trump bezeichnet. Gesellschaftlicher Wandel vollzieht sich schleichend. Der Referenzrahmen, der uns bei der Wahrnehmung dieses Wandels als Orientierung dient, verschiebt sich. Diesen Vorgang beschreibt der ursprünglich aus der Umweltforschung stammende Begriff „shifting baselines“.

Welzer verdeutlicht dies anhand eines Beispiels: Kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 wären Diskriminierung, Ausschluss, Enteignung, Deportation und Ermordung der deutschen Juden und Jüdinnen undenkbar gewesen. Bereits 1941 hatte sich das ganze System so verändert, dass diese Verbrechen nicht nur geduldet, sondern von einem Großteil der Bevölkerung auch als richtig erachtet wurden. Die Verhältnisse und deren Wahrnehmung hatten sich mit dramatischen Folgen geändert.

Als shifting baseline kann auch der Übergang von der „Willkommenskultur“ im Sommer 2015 hin zu der Stimmung im Januar 2016 charakterisiert werden. Die Ursachen dafür sieht Welzer nicht in einem großen Meinungsumschwung innerhalb der Bevölkerung, sie lägen in der politischen und medialen Kommunikation. „2015 war der feuchte Traum eines jeden Demokratieforschers: Eine Krise taucht auf, tausende Menschen übernehmen Verantwortung und helfen. Aber während die Ehrenamtlichen sich noch verausgaben, vermittelt ihnen die Politik, dass die Stimmung kippt“, fasst Welzer zusammen.

Beschwiegene statt schweigende Mehrheit

Seitdem ist die politische und publizistische Republik nicht mehr mit der Alltagsrealität der Bevölkerung identisch. Monatelang dominierte die „Flüchtlingskrise“ die Medien, selbst als kaum noch Geflüchtete nach Deutschland amen. VertreterInnen rechter Parteien saßen in jeder Talkshow, ihre Entgleisungen bestimmten die Nachrichten. Parallel orientierten sich die Parteien bis in den Landtags- und Bundestagswahlkampf 2017 hinein an rechten Themen, es ging ausschließlich um Migration und Sicherheit. Sozialer Wohnungsbau, soziale Gerechtigkeit, ökologische Probleme, wachsende Armut, Bildung, Arbeitsrecht etc. – Fehlanzeige. „Und was macht ein gewisser bayerischer Ministerpräsident? Bekämpft rechte Politik, in dem er sie imitiert. Das ist doch Wahnsinn.“….

Der Artikel erschien zuerst auf www.trailer-ruhr.de.

Einen Nachdruck findet ihr im Online-Magazin der Initiative „Die offene Gesellschaft“.

Emanzipiert auf’s Maul (Diskussion über Heldinnen im Film)

Seit der Fall des Produzenten Harvey Weinstein öffentlich wurde, ist sexualisierte Gewalt in Hollywood und andernorts wieder ein Thema. Oft wird dabei erwähnt, dass sich die kreative Gemeinschaft der Traumfabrik betont liberal gibt, was Frauenrechte betrifft aber noch in der Steinzeit lebe.

Aber sind die Filme und die darin verhandelten Geschlechterrollen progressiver als die Besetzungscouch? Film- und Medienwissenschaftlerin Véronique Sina von der Universität Tübingen und Alexander Nolte vom Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) diskutieren im Filmstudio Glückauf diese Frage. Unter dem Titel „Weibliche Helden“, ein Teil der CineScience-Reihe „Helden im Film“, die das KWI in Zusammenarbeit mit dem Filmstudio veranstaltet, nehmen sie vier Szenen aus Kultfilmen von 1979 bis 2010 genauer unter die Lupe.

Warum 2017 noch über Feminismus im Film geredet werden muss, zeigt beispielsweise der Bechdel-Test. Mit ihm lässt sich oberflächlich aber simpel testen, inwieweit Frauen in Filmen stereotyp dargestellt werden. Drei Fragen werden an den Film gestellt: Gibt es mindestens zwei Frauenrollen? Sprechen diese Frauen miteinander und ist der Gegenstand dieses Gesprächs etwas anderes als ein Mann? Wer damit die alte „Star Wars“-Trilogie oder die „Harry Potter“-Reihe konfrontiert, gelangt zu dem Ergebnis: durchgefallen. Dabei liegt die Latte nicht eben hoch. Denn würden die Frauen wenigstens über Schminke, Diäten oder Kinder reden, wäre der Test schon bestanden.

Sina und Nolte haben für den Abend erfolgreiche, bekannte Filme mit einer starken Protagonistin ausgewählt. Zum Auftakt präsentieren sie zwei Filmausschnitte aus den ersten beiden Teilen der „Alien“-Saga, Ridley Scotts „Alien“ von 1979 und „Aliens“ von James Cameron (1986). Sigourney Weaver überlebt in beiden als unkaputtbare Ellen Ripley nicht nur alle männlichen Crewmitglieder, sondern rettet am Ende auch noch ein Kätzchen bzw. ein Kind….

Der Text ist Online als Beitrag der Reihe „Foyer“ im trailer-Magazin auf www.trailer-ruhr.de erschienen.  Hier geht’s zur Online-Fassung.