Thementext GIRLHOOD in epd film 01/2024

»Barbie« hat gezeigt, dass man mit Filmen für weibliches Publikum richtig Kasse machen kann. Und Gerwigs Blockbuster markiert nur die Spitze eines Trends: Das Kino entdeckt Mädchen und junge Frauen als Zielgruppe wieder.

»It is literally impossible to be a woman. [. . .] We have to always be extraordinary, but somehow we’re always doing it wrong.« Mit dieser Aussage beginnt America Ferreras Monolog in »Barbie«. Sie zählt darin auf, wie schwierig und im Grunde unmöglich es ist, all die paradoxen Herausforderungen zu erfüllen, die an Frauen gestellt werden. Aber niemand – bis auf Barbie selbst – ­wird als Frau geboren. Die Gesellschaft mit ihren Normen und Rollenerwartungen beeinflusst das Selbst- und Fremdbild von Mädchen und Teenagern. Dass sie in ihrer Kindheit, Jugend und Pubertät zwangsläufig andere Erfahrungen machen als Jungen, interessierte das Kino allerdings jahrzehntelang nicht. Das ändert sich allmählich. Molly Manning Walkers »How to Have Sex« oder Catherine Corsinis neuer Film »Rückkehr nach Korsika«, der in Cannes lief und demnächst bei uns ins Kino kommt, sind dafür aktuelle Beispiele: Beide erzählen authentisch und mit komplexen Frauenfiguren im Mittelpunkt davon, wie es ist, als Mädchen oder junge Frau in dieser Welt zurechtzukommen. 

Wie revolutionär das ist, zeigt ein Rückblick in die Genese des Genres, das diesen Lebensabschnitt in den Blick nimmt wie kein anderes: der Coming-of-Age-Film. Das aufgrund seiner schieren Reichweite Stereotype prägende und Diskurse bestimmende US-amerikanische Kino spielte dabei eine wichtige Rolle. Coming-of-Age als Genre lässt sich nicht genau definieren, weist Überschneidungen mit Komödie, Drama oder dem Horrorfilm auf. Es entstand in den frühen 1950er Jahren, als Hollywood eine bis dato unbekannte Zielgruppe für sich entdeckte: Teenager. Damit waren allerdings vor allem junge, weiße Männer an der Schwelle zum Erwachsenwerden gemeint. In frühen Meilensteinen wie »Der Wilde« mit Marlon Brando (1953), . . . »Denn sie wissen nicht, was sie tun« (der James Dean 1955 zum Ruhm katapultierte) oder »Sie küssten und sie schlugen ihn«, mit dem François Truffaut 1959 die Nouvelle Vague mitbegründete, sind adoleszente Männer Motor und Fluchtpunkt der Handlung. 

Männliche Figuren und ihre Konflikte veränderten sich in den folgenden Jahrzehnten, wurden komplexer, sexuell aktiv und tummelten sich in verschiedenen soziokulturellen Milieus. Die Rolle der jungen Frau – ­so sie denn überhaupt vorkam – tangierte das nicht. In »Die Reifeprüfung« von 1967 ist Elaine nur das passive Love Interest von Benjamin Braddock, in »American Graffity« sorgen die Girlfriends der Männerclique für Stress. 1983 inszenierte Francis Ford Coppola…

Der Text ist in Print erschienen in epd film 01/2024 und ist online hier verfügbar: Ganzen Text auf epd film online lesen

Porträt Alice Gruia in der Freitag

Alice Gruias Serie „Lu von Loser“ mit der Regisseurin selbst in der Titelrolle überzeugt auch in der zweiten Staffel – die Zuschauer:innen erwartet schwarzer Humor und ein ehrlicher Blick auf das Leben einer Alleinerziehenden

Als Alice Gruia nach der Premiere der zweiten Staffel ihrer „Sadcom“ Lu von Loser im Rahmen des Kölner Seriencamps im Juni die Bühne betritt, ist ihr die Erleichterung sichtlich anzumerken. Sie holt ihr Team nach vorne, dankt jedem und jeder Einzelnen und badet im Applaus. Es ist der vorläufige Höhepunkt einer unerwarteten Erfolgsgeschichte.

Schon die erste Staffel rund um die ungeplant schwangere Musikerin Lu, die wieder bei ihrer Mutter in Köln einziehen muss, nachdem sie sich mit ihrer Band zerstritten hat, war eine Überraschung, auch für Lus Schöpferin Gruia selbst. 1983 geboren und in Bonn aufgewachsen, absolvierte sie eine….

Der Text ist erschienen in der Freitag 30/23 und online abrufbar unter freitag.de

Archive des Alltags (filmdienst)

Rezension zu „Was wir filmten. Filme von ostdeutschen Regisseurinnen nach 1990“

Petra Tschörtners Dokumentarfilm „Berlin –Prenzlauer Berg. Begegnungen zwischen dem 1. Mai und dem 1. Juli 1990“ beginnt mit einer Einstellung der filmhistorisch symbolisch aufgeladenen „Ecke Schönhauser“. Von dort setzt sich der Streifzug durch den Szenekiez fort. In der alten Eckkneipe, vor „Konnopkes Imbiss“ oder in der Textilfabrik offenbaren DDR-Bürgerinnen und -Bürger Hoffnungen und Ängste, die sie wegen der bevorstehenden Währungsunion umtreiben. Das Gewohnte scheint sich bereits aufzulösen, die interviewten Menschen wirken fast skurril. Die filmische Ästhetik, mit der die Regisseurin hier auf 35mm-Schwarz-weiß-Material diesen Schwebezustand, den urbanen Rhythmus und die verschiedenen Subkulturen einfängt, assoziiert große Vorbilder wie Walter Ruttmanns „Berlin – die Sinfonie der Großstadt“ oder Dziga Vertovs „Der Mann mit der Kamera“. Wer „Berlin – Prenzlauer Berg“ gesehen hat, fragt sich, warum bloß Petra Tschörtner, die in Babelsberg mit Helke Misselwitz und Thomas Heise studierte, „als Filmemacherin verloren“ gegangen ist, wie Matthias Dell 2012 in seinem Nachruf auf sie schrieb.

Der Sammelband „Was wir filmten. Filme von ostdeutschen Regisseurinnen nach 1990“ nimmt diese und weitere Fragen, die über die Filmhistorie hinausreichen, in den Blick. Der Schwerpunkt liegt dabei meist auf Dokumentar- und Experimentalfilmen. Die ehemaligen DEFA-Regisseurinnen waren hier im Vergleich zum Spielfilm stärker vertreten, ihre Geschichte und ihre Erfahrungen der Wendejahre sind jedoch bisher weit weniger erforscht. Anders als der Titel suggeriert, wird neben dem ostdeutschen Filmschaffen nach 1990 auch die DDR selbst immer wieder zum Thema….

Der vollständige Text ist erschienen auf filmdienst.de. Hier geht’s zum vollständigen Text.

„Male or Female? Yes!“ (Missy Magazine)

Zwanzig Jahre nach der Doku „Gendernauts“ trifft Monika Treut die damaligen Protagonist*innen wieder.

Die wohl bekannteste Szene aus „Gendernauts“: Stafford schaut in die Kamera und gibt an, auf die häufig gestellte Frage „Are you male or female?“ stets mit „Yes!“ zu antworten. Monika Treuts Dokumentarfilm von 1999 setzte trans Menschen wie Stafford erstmals respektvoll ins Bild und porträtierte die vibrierende queere Szene San Franciscos zu einer Zeit, in der Gendergrenzen zu fließen und sich scheinbar aufzulösen begannen.

Rund zwanzig Jahre später besucht die Regisseurin ihre Protagonist*innen von einst. Die damals florierende Szene ist heute durch Tech-Boom und Gentrifizierung weitgehend verschwunden. Auch Stafford hat die Bay Area verlassen und lebt heute als Mann. Andere sind geblieben, ihr Kampf um Akzeptanz geht weiter. So wie Susan Stryker, Pionierin auf dem Feld der Transforschung. Oder Publizistin und Computergeek Sandy Stone, die sich als eine der ersten MtF (Male to Female) der USA in den 1970er-Jahren für eine „geschlechtsangleichende Operation“ entschied und heute mit über achtzig Jahren einen alternativen Radiosender leitet. Die cisgeschlechtliche Verbündete und Ex-Pornodarstellerin Annie Sprinkle wiederum ist als „Ökosexuelle“ unterwegs und engagiert sich mit ihrer Partnerin Beth für Klimaaktivismus.

Jede dieser von Offenheit und Vertrauen zur Regisseurin geprägten Begegnungen rahmt Bildgestalterin Elfi Mikesch mit großartigen Einstellungen und in satten Farben…

Erschienen in: Missy Magazine 05/21 (Print). Hier geht’s zum vollständigen Artikel.

Ziemlich befriedigende Sache

In der Mini-Serie „Loving Her“ brilliert Banafshe Hourmazdi als lesbische Titelheldin, die Fleabags kleine Schwester sein könnte.

Eine Frau steht in einem kleinen Club auf der Bühne und haucht eine balladige Version von Britney Spears Popsong „Toxic“ ins Mikrofon. Im Publikum beobachtet sie eine Frau mit leuchtenden Augen und lächelt sie an. Ihrem begehrenden Blick folgen wir zurück zur Sängerin. Während diese zärtlich von einem „poison paradise“ singt, verlieren wir uns in einer Nahaufnahme ihres Gesichts, ihrer Lippen, in ihrem hypnotischen Blick, der nur auf uns gerichtet zu sein scheint. Hanna, die Frau aus dem Publikum, ist völlig verknallt in die Sängerin und wir schmelzen mit ihr dahin.

Es sind Szenen wie diese, mit denen die Mini-Serie „Loving Her“ das Verlangen, das Kribbeln im Bauch und die flirrende Erotik so greifbar macht. Die Serie basiert auf dem niederländischen Vorbild „Anne+“ und ist die erste deutsche TV-Serie, in der eine lesbische Beziehung im Mittelpunkt steht. Ich-Erzählerin Hanna (Banafshe Hourmazdi) hat gerade ihr Literaturstudium in Berlin abgeschlossen. Kurz vor ihrem Wegzug aus der geliebten Wahlheimat läuft sie ihrer ersten großen Jugendliebe Franzi (Lena Klenke, zuletzt mit „How To Sell Drugs Online (Fast)“ bei Netflix) über den Weg. Diese Begegnung ist Anlass für Hanna, die letzten Jahre und Affären Revue passieren zu lassen, die in sechs komprimierten Episoden erzählt werden.

Mit Hanna mitzufiebern fällt leicht. Sie ist cool, draufgängerisch und streitlustig, dann wieder nachdenklich, völlig verpeilt und eine ­Loserin. Bewusst wird darauf verzichtet, eine naheliegende Einwanderungsgeschichte aufzugreifen. Die im Ruhrpott aufgewachsene, deutsch-iranische Schauspielerin Banafshe Hourmazdi („Futur Drei“) ist einfach Hanna, fertig. Folgerichtig steht auch ihre Homosexualität nicht im Vordergrund, das Drama ergibt sich aus den Figurenkonstellationen und dem alltäglichen, zwischenmenschlichen Wahnsinn…

Erschienen in: an.schlaege VI/2021 (Print). Hier geht’s zum vollständigen Online-Artikel.

Kill your Darling!

Die Spionageserie „Killing Eve“ ist extrem spannend, stylisch, brutal – und brüllend komisch.

Eine junge Frau sitzt in einem pinkfarbenen Kleid aus sehr viel Tüll zwei Männern mit Pokerfaces gegenüber. Wie es ihr gehe, wird sie gefragt. „Letzte Woche hatte ich eine ziemlich starke Monatsblutung. Aber sonst geht’s mir ganz gut“, erwidert sie trocken. Auch ihr beunruhigend harmloses Lächeln konterkariert den Ernst der Lage – es handelt sich um eine Prüfung, ob sie ihren Job als Auftragskillerin einer global agierenden Geheimorganisation weiter ausführen kann.

Wer diese Frau namens Villanelle ist, bleibt zunächst ein Geheimnis. Sie ist polyglott, kontrolliert und effizient. Aber auch unberechenbar, ungeduldig und von der Routine ihres mörderischen Brotjobs angeödet. Das verbindet sie mit Eve Polastri, die als unterforderte Mitarbeiterin des britischen Geheimdienstes ebenfalls gelangweilt ist und in ihrer Freizeit über Serienkillerinnen recherchiert. Der Zufall bringt Eve auf die Spur der brutalen Killerin …

Erschienen in: an. schläge VIII / 2020 (Print). Link zum vollständigen Online-Text.

Bin ich verhaftet? (Rezension „Gott existiert, ihr Name ist Petrunya“)

Eine toughe Heldin kämpft gegen die Dreifaltigkeit des Patriarchats aus Kirche, Staat und Gesellschaft.

Petrunya ist Anfang 30, arbeitslose Historikerin und wohnt bei ihren Eltern. Nach einem miesen Vorstellungsgespräch gerät sie in ein orthodoxes Ritual, bei dem die Männer des Dorfes alljährlich am Dreikönigstag in einen eiskalten Fluss springen. Sie wollen ein Glück verheißendes Holzkreuz ergattern, das der Priester zuvor hinein geschmissen hat. Petrunya wirft sich einem Impuls folgend ebenfalls in die Fluten, schnappt das Kreuz und flieht damit klatschnass vor Priester und perplexer Meute. Zuhause angekommen, wird sie von ihrer streng gläubigen Mutter verpfiffen, die Polizei nimmt sie mit, um auf dem hiesigen Polizeirevier den vermeintlichen Skandal zu klären….

Der Text ist erschienen in Print: Missy Magazine 06/19 und online unter: www.missy-magazine.de

Pull up the dinosaurs‘ skirts

Geschlechterbilder in Jurassic Park (1993) und Jurassic World (2015)

„Do you remember the first time you saw a dinosaur?“ Mit dieser Frage beginnt der zweite Trailer zu Jurassic World – Fallen Kingdomi, der 2018 als fünfter Teil des Dino-Franchises in die Kinos kam. Ich selbst erinnere mich noch genau, wann und wo ich das erste Mal einen Dinosaurier gesehen habe. Natürlich hatte ich zuvor schon mal etwas von Dinosauriern gehört und im Fernsehen auch irgendwie gesehen, zum Beispiel in der Arthur Conan Doyle-Adaption The Lost World (R: Irwin Allen, 1960), in Kevin Connors Caprona – The Land That Time Forgot (1974) oder in Bill L. Nortons Baby – Secret of the Lost Legend (1985). Leguane in Großaufnahme, Handpuppen oder Stop Motion erweckten hier die Donnerechsen aber nur partiell zum Leben. Wirklich gesehen habe ich Dinosaurier erst dank Steven Spielberg, der sie 1993 mit Jurassic Park direkt aus meiner Phantasie als lebende, atmende und fressende Wesen auf die Leinwand projizierte, 65 Millionen Jahre nach ihrem Aussterben….

Der vollständige Essay ist in Print erschienen in: WerkstattGeschichte 79, 27. Jahrgang, März 2019, 2/2018. Zur Heftbestellung: werkstattgeschichte.de
Der Artikel steht auch frei zum Download zur Verfügung.

Abstrakt

„Ein Vierteljahrhundert nach Kinostart ist Steven Spielbergs Jurassic Park noch immer ein Film »worth watching«, was nicht zuletzt an seinen progressiven Geschlechterdarstellungen liegt. 2015 startete mit Jurassic World der erste Teil einer Trilogie, die das Dino-Franchise wiederbelebte, in Bezug auf geschlechtliche Rollenvorstellungen aber stereotyp bis antifeministisch blieb. Die viel zitierten und von Fans und Kritik geächteten High Heels der Protagonistin sind dafür nur der offensichtlichste Beleg. Maxi Braun zeigt anhand eines Close Readings, wie Geschlechterbilder in beiden Filmen unterschiedlich ästhetisch und narrativ verhandelt werden. Neben den weiblichen und männlichen Figuren nimmt sie die gentechnisch bewusst weiblich geschaffenen Dinosaurier in den Blick. Sie legt offen, wie Jurassic Park bereits 1993 (queer)feministische Lesarten eröffnete, als sich Frauenemanzipation im Action- und Science Fiction-Genre erst bestenfalls vorsichtig andeutete. Jurassic World hingegen biedert sich bei den Themen Geschlecht, Reproduktionskontrolle, Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie Frauen in Führungspositionen einem antifeministischen Zeitgeist der 2010er Jahre an.“

Love in a hopeless place (Rezension „Queen & Slim“)

Mit ihrem Spielfilmdebüt „Queen & Slim“ gelingt Melina Matsoukas ein Mix aus Roadmovie und Liebesgeschichte, voll visueller und sozialkritischer Wucht.

Es ist eines dieser typisch US-amerikanischen Diner, wie es Edward Hopper schon 1942 in „Nighthawks“ abbildete. An diesem Ort voll Neonlicht getünchter Trostlosigkeit sitzen sich Queen und Slim bei einem wenig prickelnden Tinder-Date gegenüber. Queen ist Anwältin, hat gerade einen Fall verloren und will den Abend nicht allein verbringen. Slim scheint ein netter, einfach gestrickter Kerl zu sein, auf den sie mitleidig und arrogant herabblickt. Ein Eindruck, der sich schnell aus der zähfließenden Unterhaltung ergibt. Ein zweites Date ist nicht in Sicht, aber Slim bietet an, Queen nach Hause zu fahren. Unterwegs geraten sie wegen einer Lappalie in eine Polizeikontrolle. Weil beide Schwarz sind und der Polizist ein Rassist, eskaliert die Situation. Ebenso schuldlos wie plötzlich sind Queen und Slim in einer schicksalhaften Gemeinschaft miteinander verbunden und fortan auf der Flucht.

Kaum zehn Minuten Erzählzeit ihres Spielfilmdebüts benötigt Regisseurin Melina Matsoukas, bisher vor allem bekannt für ihre Musikvideos für Rihanna oder Beyoncé, für diese Einführung und um uns für ihre Figuren einzunehmen. Was folgt, ist ein wilder Trip durch die Südstaaten der USA, die Tat Radcliffs Kamera aus poetischen Totalen der Landschaft, aber auch aus Momentaufnahmen der ärmeren, runtergerockten und meist Schwarzen Viertel zwischen Kentucky und Georgia zusammensetzt. Erst allmählich realisieren Queen und Slim, dass der Vorfall von der Dash Cam des Polizisten gefilmt wurde, im Internet gelandet und viral gegangen ist. Als „Schwarze Bonnie und Clyde“ versuchen sie sich trotz Fahndung nach Florida durchzuschlagen, um sich nach Kuba abzusetzen. Filmhistorisch erinnert das an „Thelma und Louise“. Wo Ridley Scott 1991 mit dem bis dato männlich dominierten Genre des Roadmovies brach und Sexismus und sexualisierte Gewalt implizit verhandelte, ist „Queen & Slim“ das erste Schwarze Roadmovie vor der Folie von Rassismus und Alltagsdiskriminierung.

„Queen & Slim“ ist aber auch eine träumerische Liebesgeschichte, in der sich zwei Menschen aus unterschiedlichen sozialen Klassen treffen und verlieben. Das geschieht in einer Underground- Spelunke in Alabama, in der die Gejagten eine kurze Verschnaufpause wagen. Es wird Blues gespielt, im rot-grün gedämpften Licht wiegen sich Gestalten der Nacht trunken zum Rhythmus. In der Mitte tanzen Queen und Slim in fester Umarmung. Der Dialog aus der Folgeszene, in der sie einander offenbaren, was sie von der Liebe erwarten, legt sich über dieses Bild, während die Kamera beide umkreist und sich die gesamte Bildsprache vor Wong Kar-wais „In The Mood For Love“ verneigt.

Insgesamt nehmen die Wege, die Queen und Slim letztlich bis auf einen Flugplatz in Florida führen, vielleicht den ein oder anderen narrativen Abzweig zu viel, die Parallelmontage von Sexszene und eskalierender Demo sowie die damit verbundene Nebenhandlung lassen den Sog des Films etwas zerfasern. Jodie Turner-Smith als Queen, die hier ihre erste Hauptrolle spielt, und Daniel Kaluuya als Slim, der seit Jordan Peeles „Get Out“ einem breiten Publikum bekannt ist, trösten aber darüber hinweg. Sie sorgen dafür, dass die Spannung als Sorge um das Schicksal der Figuren bis zum bitteren Ende anhält und wir von ihrer Metamorphose von einer Zweckgemeinschaft zu wahrhaft Liebenden, von Namenlosen zu ikonenhaft verehrten Outlaws fasziniert bleiben.

Der afroamerikanische Künstler Arthur Jafa hat einmal gesagt, People of Color, Frauen und Homosexuelle müssten sich in einer weißen, männlich und heteronormativ dominierten Kultur mangels Repräsentation schon immer in andere hineinversetzen, und das Kino sei eine Möglichkeit, diese Empathie zu trainieren wie einen Muskel. „Queen & Slim“ ist eine effektive Trainingseinheit, die diese Erfahrung umkehrt, und ein Stück „New New Black Cinema“, wie es vor zehn Jahren, vor #blacklivesmatter und #oscarssowhite nicht möglich gewesen wäre. Ein politisches Statement und rauschhaftes Kinoerlebnis zugleich.

Erschienen in: an. schläge 2020, an.sehen, I / 2020 (Print)
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Gesetz der Straße (Rezension „Beale Street“)

Filmkritik: „Beale Street“ verwebt Liebesgeschichte und Justizdrama zu anspruchsvollem Black Cinema.

Die titelgebende Beale Street aus James Baldwins Roman „If Beale Street Could Talk“ von 1973 befindet sich eigentlich in New Orleans. Sie steht aber exemplarisch für jede der Schwarz geprägten Nachbarschaften in den USA und ihr soziokulturelles Gefüge, das Baldwin selbst als eine Art Vermächtnis der Schwarzen Community bezeichnet. Barry Jenkins’ Filmadaption greift diese Doppeldeutigkeit ebenfalls auf. Denn einerseits geht es in „Beale Street“ um Alltagsrassismus und die bis heute fortdauernde strukturelle Diskriminierung von Schwarzen Menschen in einem weiß dominierten Justizsystem. Andererseits erzählt der Film die berührende Liebesgeschichte von Tish (Newcomerin Kiki Layne) und Fonny (Stephan James).

Fonny und Tish. Diese beginnt mit einer gemeinsamen Kindheit, in der eine Freundschaft entsteht, die später zu Liebe wird. Jenkins inszeniert diese behutsame Annäherung und erste Phase des Verliebtseins mit langen, ruhigen Einstellungen in den satten Farben des New Yorker Sommers und Herbstes, gedreht an Originalschauplätzen in Harlem. Diese Episoden werden uns aus Tishs Perspektive in Rückblenden erzählt, begleitet von ihrem poetischen bis lakonischen Off-Kommentar. Das Glück ist aber nicht von Dauer: Fonny wird wegen einer brutalen Vergewaltigung verhaftet, die er nicht begangen haben kann. Zur Tatzeit ist er mit Tish und einem alten Freund zusammen am anderen Ende der Stadt. Doch es wiederholt sich ein uraltes Motiv: Das Alibi der eigenen Partnerin und des vorbestraften Freundes zählen auch in den USA der 1970er-Jahre nichts, wenn ein Schwarzer Mann von einem weißen Polizisten belastet wird. Fonny bleibt in U-Haft, während Tish, ihre Familie und Fonnys Vater versuchen, seine Unschuld doch noch zu beweisen.

Mit dem Bauch wächst der Kampfgeist. Zwischen den erwähnten Rückblenden kehrt die Handlung immer wieder in die Gegenwart zurück, markiert durch Tishs Besuche im Gefängnis. Eine Orientierung in den verschiedenen Zeit- und Erzählebenen bietet außerdem Tishs fortschreitende Schwangerschaft, von der sie kurz nach Fonnys Verhaftung erfährt. Parallel zum Bauch wächst auch ihr Kampfgeist, und während Fonny im Gefängnis zur Passivität verdammt verzweifelt, entwickelt sie sich auf der anderen Seite der Glasscheibe von einem naiven Mädchen zu einer souveränen und entschlossenen Frau. Die meisten weiblichen Figuren in „Beale Street“ werden ähnlich stark und selbstbewusst gezeichnet. Tishs resolute Mutter (Regina King erhielt für ihre Rolle eine Oscar-Nominierung) reist allein bis nach Puerto Rico, um den Schwiegersohn zu entlasten, die ältere Schwester ermutigt sie, sich nicht für ein uneheliches Kind zu schämen. Auch Tishs Vater erkundigt sich zuerst danach, ob seine Tochter das Kind bekommen will, und ergänzt sofort: „Denk nicht, du seist ein böses Mädchen! Ich frage nur, weil du so jung bist.“ Jenkins schildert diesen familiären Zusammenhalt eindrücklich, getragen von starken Frauen und einem Vater, der Stolz auf diese Stärke ist. Nicht religiöse oder gesellschaftliche Konventionen bestimmen hier die Regeln, Solidarität ist das oberste Gebot. Erfreulich realistisch ist zudem, dass die Schwangerschaft nicht verklärt dargestellt wird. Hier tritt der Fötus die werdende Mutter auch mal so heftig, dass ihr die Kaffeetasse aus der Hand fällt.

Präzise sezierter Rassismus. Wer am Ende Gerechtigkeit erwartet, wird von „Beale Street“ enttäuscht. Die eigentliche Tragik liegt aber darin, dass sich an dem von James Baldwin schon vor mehr als vierzig Jahren so präzise dargestellten Rassismus bis heute nur so wenig geändert hat. Nicht nur eine Beale Street mit all ihrer lebendigen Dynamik und Problemen gibt es  überall in den USA. Auch Ferguson oder Baltimore stehen exemplarisch für die schlimmsten Ungerechtigkeiten, die Schwarzen Menschen noch heute an zu vielen Orten widerfahren. Barry Jenkins gelingt dieser Tragik zum Trotz eine wunderschön fotografierte und narrativ anspruchsvoll verschachtelte Geschichte, die thematisch über sich selbst hinausweist. Empowernd ist das nicht, aber ein berührendes und meisterhaftes Werk des Black Cinema.

Erschienen in: an. schläge 2019, an.sehen, II / 2019 (Print)
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