Bin ich verhaftet? (Rezension „Gott existiert, ihr Name ist Petrunya“)

Eine toughe Heldin kämpft gegen die Dreifaltigkeit des Patriarchats aus Kirche, Staat und Gesellschaft.

Petrunya ist Anfang 30, arbeitslose Historikerin und wohnt bei ihren Eltern. Nach einem miesen Vorstellungsgespräch gerät sie in ein orthodoxes Ritual, bei dem die Männer des Dorfes alljährlich am Dreikönigstag in einen eiskalten Fluss springen. Sie wollen ein Glück verheißendes Holzkreuz ergattern, das der Priester zuvor hinein geschmissen hat. Petrunya wirft sich einem Impuls folgend ebenfalls in die Fluten, schnappt das Kreuz und flieht damit klatschnass vor Priester und perplexer Meute. Zuhause angekommen, wird sie von ihrer streng gläubigen Mutter verpfiffen, die Polizei nimmt sie mit, um auf dem hiesigen Polizeirevier den vermeintlichen Skandal zu klären….

Der Text ist erschienen in Print: Missy Magazine 06/19 und online unter: www.missy-magazine.de

Pull up the dinosaurs‘ skirts

Geschlechterbilder in Jurassic Park (1993) und Jurassic World (2015)

„Do you remember the first time you saw a dinosaur?“ Mit dieser Frage beginnt der zweite Trailer zu Jurassic World – Fallen Kingdomi, der 2018 als fünfter Teil des Dino-Franchises in die Kinos kam. Ich selbst erinnere mich noch genau, wann und wo ich das erste Mal einen Dinosaurier gesehen habe. Natürlich hatte ich zuvor schon mal etwas von Dinosauriern gehört und im Fernsehen auch irgendwie gesehen, zum Beispiel in der Arthur Conan Doyle-Adaption The Lost World (R: Irwin Allen, 1960), in Kevin Connors Caprona – The Land That Time Forgot (1974) oder in Bill L. Nortons Baby – Secret of the Lost Legend (1985). Leguane in Großaufnahme, Handpuppen oder Stop Motion erweckten hier die Donnerechsen aber nur partiell zum Leben. Wirklich gesehen habe ich Dinosaurier erst dank Steven Spielberg, der sie 1993 mit Jurassic Park direkt aus meiner Phantasie als lebende, atmende und fressende Wesen auf die Leinwand projizierte, 65 Millionen Jahre nach ihrem Aussterben….

Der vollständige Essay ist in Print erschienen in: WerkstattGeschichte 79, 27. Jahrgang, März 2019, 2/2018. Zur Heftbestellung: werkstattgeschichte.de
Der Artikel steht auch frei zum Download zur Verfügung.

Abstrakt

„Ein Vierteljahrhundert nach Kinostart ist Steven Spielbergs Jurassic Park noch immer ein Film »worth watching«, was nicht zuletzt an seinen progressiven Geschlechterdarstellungen liegt. 2015 startete mit Jurassic World der erste Teil einer Trilogie, die das Dino-Franchise wiederbelebte, in Bezug auf geschlechtliche Rollenvorstellungen aber stereotyp bis antifeministisch blieb. Die viel zitierten und von Fans und Kritik geächteten High Heels der Protagonistin sind dafür nur der offensichtlichste Beleg. Maxi Braun zeigt anhand eines Close Readings, wie Geschlechterbilder in beiden Filmen unterschiedlich ästhetisch und narrativ verhandelt werden. Neben den weiblichen und männlichen Figuren nimmt sie die gentechnisch bewusst weiblich geschaffenen Dinosaurier in den Blick. Sie legt offen, wie Jurassic Park bereits 1993 (queer)feministische Lesarten eröffnete, als sich Frauenemanzipation im Action- und Science Fiction-Genre erst bestenfalls vorsichtig andeutete. Jurassic World hingegen biedert sich bei den Themen Geschlecht, Reproduktionskontrolle, Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie Frauen in Führungspositionen einem antifeministischen Zeitgeist der 2010er Jahre an.“

Schauen Sie genau hin!

Christopher Nolan (* 30.7. 1970) und sein Einfluss auf das Kino

„Are re you watching closely?“ – mit dieser an die Zuschauer*innen gerichteten Frage endet Christopher Nolans Prestige – Die Meister der Magie (2006). Es geht um zwei rivalisierende Magier im ausgehenden 19. Jahrhundert, die einander ein Leben lang übertrumpfen und die Tricks des anderen entlarven wollen, bis beide daran zugrunde gehen und alles verlieren. Zahlreiche falsche Fährten führen sowohl die Zauberer als auch das Publikum mehrfach in die Irre. Der Rat, ganz genau hinzusehen, empfiehlt sich aber für alle von Nolans Filmen, der selbst einer der großen Kinomagier des zeitgenössischen Films ist.

Christopher Nolan wird am 3. Juli 1970 als Sohn einer US-Amerikanerin und eines Briten in London geboren. Schon früh experimentiert er mit der Super-8-Kamera seines Vaters, ab 1977 verengt sich sein kindliches Sujet auf das Weltall. Grund ist mit Star Wars das erste prägende Kinoereignis, an das er sich erinnert. Als Nolan 12 Jahre alt ist, reift in ihm die Idee, Regisseur zu werden. Er bewundert Alien (1979) ebenso wie Blade Runner (1982) und erkennt, dass die Handschrift von Regisseur Ridley Scott auch in zwei so unterschiedlichen Filmen erkennbar ist. Seine Eltern unterstützen ihn in seinem Wunsch – auch als er die teure Super-8-Kamera kaputt macht. Wie konkret und realistisch seine Einschätzung des Filmemachens ist, zeigt sich in der frühen Erkenntnis: Niemand gibt einem unbekannten Filmemacher ein fertiges Drehbuch. Fortan verfasst er selbst Drehbücher, um eigene Geschichten in petto zu haben. Er findet Gefallen daran, ebenso wie sein jüngerer Bruder Jonathan, mit dem er bis heute an fünf Filmen zusammengearbeitet hat.

Ende der 1980er beginnt Christopher Nolan ein Studium der Englischen Literatur am University College in London (UCL), vor allem wegen des Zugangs zum filmischen Equipment. Er wird Mitglied, dann Präsident des studentischen Filmclubs und lernt seine spätere Frau Emma Thomas kennen. Sie produziert bis heute alle seine Filme, mit ihr gründet er die Produktionsfirma „Synkopie“ und das Paar bekommt vier Kinder. Der Filmclub zeigt 35mm-Filme während des Semesters, in den Ferien kann Nolan die 16mm-Kamera des Clubs für eigene Projekte nutzen.

Nach seinem Bachelor-Abschluss arbeitet Nolan als Skriptreader, Kameraoperateur und Regisseur für Unternehmens- und Industriefilme, bevor 1998 sein mit minimalem Budget realisiertes Spielfilm-Debüt Following erscheint, für das er auch als Drehbuchautor verantwortlich zeichnet. Der schwarzweiße Neo-Noir-Thriller mit unerwartetem Ende beinhaltet schon alle Nolan-typischen Zutaten. Dazu gehört auch die da noch dezent, später labyrinthisch verschachtelte Narration, die er mit Memento (2000) weiter ausbaut. Basierend auf einer Kurzgeschichte und dem Drehbuch seines Bruders erscheint Memento in der Hochphase des Mindfuck-Kinos. Gekennzeichnet durch eine unzuverlässige Erzählweise führen um die Jahrtausendwende Filme wie Die üblichen Verdächtigen (R: Bryan Singer, 1995), The Sixth Sense (R: M. Night Shyamalan, 1999) oder Fight Club (R: David Fincher, 1999) ihr Publikum konsequent und raffiniert in die Irre und warten im Finale mit einem unvorhersehbaren Plottwist auf. Auch am Ende von Memento steht ein Twist, aber die verschachtelte und rückwärts erzählte Geschichte ist die eigentliche Attraktion.

Memento markiert auch die erste Zusammenarbeit mit Nolans langjährigem Kameramann Wally Pfister. Der Dreh an Originalschauplätzen und in urbanen Settings statt in kulissenhaften Studiobauten sowie der möglichst geringe Einsatz von visuellen Spezialeffekten wird zu einem weiteren Markenzeichen Nolans. CGI dient bei ihm nie dazu, Geschichten zu überdecken. Digitale Special Effects nutzt er nur, um die praktischen, „handgemachten“ Effekte aufzuwerten. Filmsprachliche, formale Spielereien sucht man in seinen Werken ebenfalls vergeblich. Die Form dient dazu, Betrachter*innen in die Handlung einzunähen. Dokumentarisch sind seine Filme jedoch nicht, da der Realismus der Diegese durch den geschickten Einsatz von Musik oder Montage oftmals bewusst in Zweifel gezogen wird.

Nach Memento folgt mit der US-Adaption des norwegischen Thrillers Insomnia (2002) eine Auftragsarbeit, mit der Nolan beweist, dass er auch ein größeres Budget händeln kann. Erst dadurch wird sein Engagement bei Batman Begins (2005) denkbar. Es wird ein Erfolg bei Kritik und Publikum. Wo Sam Raimis Spider-Man (2002) die Genese von Peter Parker zum Spinnenmann als selbstironische Coming-of-Age-Geschichte erzählt, wischt Nolans Batman Begins „the smile off the face of Superhero movies“, wie Kyle Smith damals in der New York Post bemerkt. Nolan belebt mit Batman Begins nicht nur die Reihe um DCs düsteren Heroen wieder, er haucht dem ganzen Superheldengenre neues Leben ein, eine Vielzahl anderer Reboots folgt. Auch sein eigenes Sequel The Dark Knight (2008) wird mit Heath Ledger als legendärem Joker ein Erfolg. Hierfür dreht er vier Sequenzen, darunter die Auftaktszene des Bankraubs, im 70mm-IMAX-Format. So sparsam Nolan mit CGI umgeht, so sehr bevorzugt er teures, analoges Filmmaterial. Auch über seine eigenen Filme hinaus. Als Mitglied der gemeinnützigen Organisation „The Film Foundation“ engagiert er sich für die Bewahrung und Archivierung analoger Filme.

Bevor Nolan die Batman-Trilogie mit The Dark Knight Rises (2012) beendet, etabliert er mit Inception (2010) endgültig seine Stellung als einziger Auteur Hollywoods. Er schreibt das Drehbuch selbst, verzichtet wie bei den Batman-Filmen auf ein zweites Kamerateam bei Action-Sequenzen, wie sonst für Filme dieser Größenordnung üblich. Wieder setzt er auf Originalschauplätze und dreht in sechs Ländern, darunter in Tokio, Kanada oder Marokko. Leonardo DiCaprio gibt in dem Science-Fiction-Heist-Film den Dieb Dom Cobb, der die Träume anderer Menschen infiltriert, um Informationen zu stehlen. In einem letzten, entscheidenden Coup dringt er in immer tiefere Schichten der menschlichen Psyche vor und landet, gejagt von den eigenen Dämonen, schließlich im unentrinnbaren Limbo des Unterbewusstseins. Oder doch nicht?

Was hier Realität, was Illusion oder Traumwelt ist, lässt Nolan bewusst offen. Nach zweieinhalb Stunden faszinierender Beugung physikalischer Gesetzmäßigkeiten und waghalsiger Verfolgungsjagden durch die Gehirnwindungen ist das Popcorn alle und der Mund steht offen. Der Ariadnefaden reißt ab und der Regisseur lässt sein Publikum mit der eigenen Interpretation zurück, zwingt uns dazu, unser eigenes Verhältnis zur Realität zu reflektieren. Es gibt keinen anderen Blockbuster, der ein Mainstreampublikum mit einem derart hohen künstlerischen und intellektuellen Anspruch konfrontiert. Da stören auch die vielen Parodien der „Traum im Traum im Traum“-Struktur, beispielsweise in einer Episode der Simpsons, nicht.

2014 taucht Nolan mit Interstellar in extraterrestrische Sphären und arbeitet erstmals mit dem niederländischen Kameramann Hoyte van Hoytema zusammen. In einer dystopischen Zukunft steht die Erde vor dem Kollaps und drei Astronaut*innen machen sich auf eine ungewisse Reise durch ein Wurmloch, um neue Refugien für die dem Aussterben nahe Menschheit zu finden. Nolans Narration wechselt dabei nicht nur elegant die zeitlichen Ebenen, die Grenzen der Physik, von Zeit und Raum werden hier gleich ganz gesprengt. Der Regisseur lässt sich dafür von dem theoretischen Physiker Kip Thorne beraten, der ihm wiederum attestiert, wie ein Mathematiker zu denken. Tatsächlich fertigt Nolan stets akribisch Diagramme an, um bei seinen Erzählstrukturen den Überblick zu behalten. Interstellar ist nicht nur unter den zehn erfolgreichsten Filmen 2014, er ist auch als einziger in dieser Top Ten kein Remake, kein Sequel, kein Reboot und keine Adaption.

Danach kehrt Nolan in irdische Gefilde und in die Zeitgeschichte zurück. Der Kriegsfilm Dunkirk (2017) basiert auf den realen Ereignissen der „Operation Dynamo“ im Zweiten Weltkrieg, bei der 1940 britische Soldaten über den Ärmelkanal evakuiert wurden. Mit drei unterschiedlichen Erzählperspektiven ist er für Nolans Verhältnisse fast schon konventionell erzählt. Es ist der erste Film, für den er eine Oscar-Nominierung in der Kategorie Beste Regie erhält, nachdem er schon 2012 als jüngster Regisseur der Geschichte seine Hand- und Schuhabdrücke im Zement vor dem Grauman‘s Chinese Theatre verewigen durfte.

Der Text ist zuerst erschienen in: Bothmann, Nils (Hrsg.): Schüren Filmkalender 2020, Schüren Verlag 2019 & online hier: www.filmgeblaetter.schueren-verlag.de