Interview mit Arnold Voß zum Thema Wohnen

Maxi Braun: Herr Voß, Sie sind in Wanne-Eickel geboren und aufgewachsen, leben seit Jahren aber auch mehrere Monate im Jahr in New York und in Berlin. Kann man das Ruhrgebiet mit den beiden Metropolen vergleichen?
Arnold Voß:
Diese drei großen Städte – ich zähle das Ruhrgebiet dazu, weil ich es als eine große Stadt sehe – sind strukturell zu unterschiedlich, als dass man sie vergleichen könnte. Voraussetzung für das Wohnen in den drei Städten ist vielmehr die Frage, wie man überhaupt wohnen will. Wer in einer Weltstadt wohnen will, muss nach New York. Berlin ist keine Weltstadt, könnte es irgendwann werden, spielt aber noch in einer anderen Liga. Das Ruhrgebiet wird nie Weltstadt werden. Es hat durch seine Struktur gar nicht das Potential dafür.

Was ist typisch für das Wohnen im Ruhrgebiet?
Typisches Wohnen im Ruhrgebiet kann man nicht auf einen Punkt bringen. Typisch ist das Ruhrtal, aber typisch sind auch die Bereiche im Emschertal. Immerhin gibt es auch vier richtige Großstädte. Verschiedene Sorten von Lebensarten lassen sich innerhalb des Ruhrgebiets befriedigen.Wer eine spezielle Mischung von Großstadt und Land sowie gute Kulturangebote schätzt, ist hier ziemlich gut aufgehoben. Die Lebens- und Wohnqualität ist, wenn man wie gesagt auf die große Weltstadt-Atmosphäre verzichten kann,ausgezeichnet. Dann lebt man hier besser als irgendwo anders, kann sowohl eine dörfliche Lebensweise finden als auch die kulturellen Vorzüge der Großstadt und wirklich schräge Clubs genießen. Man kann im Dorf leben und ist trotzdem schnell in der Stadt. Die Stadtlandschaft ist hier einfach auf den Punkt gebracht.

Und die negativen Seiten?
Der Nachteil liegt in der Erreichbarkeit innerhalb des dispersen Raumes des Ruhrgebiets, der eine ziemliche Ausdehnung hat. Das ist ein Riesenmanko für jemanden, der die Möglichkeiten des Ruhrgebiets wirklich leben will, denn der ist auf ein Auto angewiesen. Aufgrund der Kosten stellt das für die Jüngeren ein Problem dar. Für jede Art von Nachtleben sind das Ruhrgebiet und sein öffentlicher Nahverkehr feindlich. An Parkplätzen mangelt es übrigens auch und an den Autobahnen kann noch Jahre gebaut werden, Dauerstaus werden die Regel bleiben. Im Ruhrgebiet hat man den Stress der großen Stadt, das urbane Angebot reicht da nicht jedem als Kompensation.

Wo wohnt es sich im Ruhrgebiet gut?
Wie in allen anderen Städten existiert eine gewisse Spreizung des Wohnungsmarktes zwischen sehr guten Lagen und sehr schlechten. Auch im Ruhrgebiet gibt es Toplagen, die auch im Weltvergleich als solche gelten. Z.B. in Essen-Bredeney, wo man nah an der Stadt mit ihrer Kultur und Einkaufsmöglichkeiten ist und einen fantastischen Ausblick ins Ruhrtal hat. Im Norden gibt es ebenfalls spannende Lagen, wenn man z.B. an eines der alten Bergwerksdirektorenhäuser käme, das sind richtige kleine Schlösser mit Parks. Aber auch für die Mittelschicht sind in einer schönen alten Arbeitersiedlung bezahlbare Sachen dabei.

Wo will man eher nicht wohnen?
Richtig schlechte Lagen gibt es im Ruhrgebiet, angesichts der großen Agglomeration im Vergleich zu anderen Gegenden der Welt, sehr wenige. Wer jetzt wieder sagt, in Duisburg wäre es so fürchterlich, soll das mal mit der New Yorker Bronx von früher vergleichen. Dann ist es nämlich plötzlich toll in Duisburg. Selbst in Problemvierteln gibt es sehr wohl Wohnqualität. Wer es als schlechte Lage empfindet, wenn viele Migranten an einem Ort wohnen – dem ist ohnehin nicht mehr zu helfen. Die richtig kaputten Gegenden könnten aber noch kommen.

Unter welchen Voraussetzungen?
Das ist das Drama der letzten Jahre. Große Fonds und Mietkonzerne haben Wohnbestände übernommen und zwar in einer Größenordnung, die europaweit Seltenheitswert hat. In den letzten 30 Jahren wurden so viele Wohnungen nur verscherbelt, weil sie in der Weltmarktlage als unterbewertet gelten. Im Ruhrgebiet fing das sogar noch früher an als in Berlin. Als Folge steigen die Mieten, während die Wohnsituation aber nicht besser wird, weil viele dieser Wohnungen in großem Maßstab als Spekulationsobjekte genutzt werden und die Investoren sie vergammeln lassen. Da besteht große Gefahr. Aber auch Eigentümer von Grundstücken mit geringem Verkaufswert am Markt, die selbst kein Geld für Reparaturen haben, lassen ihre Bude oft verrotten, das gibt es jetzt schon im Ruhrgebiet und es wird schlimmer werden.

Braucht man dann nicht Investoren wie die großen Immobilienkonzerne?
Wo die nicht einsteigen ist eben überhaupt kein Investment mehr vorhanden, d.h. insgesamt wird die Wohnsituation schwieriger und schlechter, das ist leider meine Prognose. Ohne rechtzeitige Maßnahmen werden sich auch Slums entwickeln. Damit meine ich nicht heutige Problemviertel, wie in Duisburg und Dortmund, da wird überdramatisiert. Voraussetzung wäre, dass die Städte genügen Geld haben, um dem Verfall entgegenzuwirken, haben sie aber nicht. Ebensowenig wie die Privateigentümer. Dann bleiben nur Privatinvestoren mit Spekulationsinteresse.

Was kann man solchen Spekulanten entgegensetzten?
Sehr wichtig ist die Selbstorganisation der Mieter gegen die großen Mietkonzerne. Wenn das unter entsprechend politischem Druck geschieht und die Städte dabei mitziehen, anstatt den Investoren auch noch in den Hintern zu kriechen, kann man solche Spekulanten unter Druck setzen und denen das Leben zumindest erschweren, wenn es um Mieterhöhungen geht. Das ist eine große Aufgabe. Gegen den Wertverfall von Eigentum am Wohnungsmarkt können die Hausbesitzer allerdings gar nichts tun.

Welche Alternativen gibt es gegen diese Ursache von Verfall?
Da müsste man einen genossenschaftlichen Ankauf von Privatbeständen, eine Art genossenschaftliche Gruppenprivatisierung, erwägen. Das kann und muss auch in Migrantenvierteln passieren. Die Menschen dort haben wenigstens Motivation. Viele Deutsche, auch in den Stadtverwaltungen, reagieren da schockiert, denken: „Jetzt bilden die Migranten auch noch Eigentum.“ Dahinter steckt provinzielles Denken, denn genau das wäre eine Lösung für verschiedene Probleme. Die Migranten würden mehr Verantwortung in „ihren“ Vierteln übernehmen, denn sie haben ein persönliches Interesse, eben weil sie da leben. Hilflosigkeit wird zu einem Problem in solchen Vierteln, wenn eine Struktur der Apathie entsteht und sich alle darin unterstützen, gar nichts zu tun. Mit Mikrokrediten könnte man auch den Geringverdienern unter ihnen den Einstieg erleichtern und deutschen Eigentümern, die nichts mehr tun, die Last zu einem günstigen Kurs abnehmen. Dann sieht das Viertel später eben nicht aus wie eine typisch deutsche Provinz, es würde aber funktionieren.

Trägt die Politik da die Verantwortung?
Eigentumsbildung am Wohnungsmarkt ist grundsätzlich vom Staat zu fördern, mit Muskelhypotheken und der Wiederbelebung der genossenschaftlichen Tradition, die es im Ruhrgebiet ja früher gab. Gruppenbezogene Eigentumsbildung, die nicht nur auf Profit zielt, muss gefördert werden.

Stichwort Tradition und neue Konzepte. Was halten Sie von alternativen Wohnkonzepten?
Zu meiner Studienzeit hat das mit den WGs angefangen, in meiner dritten WG lebten bereits zwei Generationen zusammen, weil es Studenten mit Kindern gab. Wer sich da für innovativ hält sollte in Migrantenviertel gucken, da ist das völlig normal. Viele Deutsche müssen das aber erst wieder lernen, denn es gibt neue Situationen zu bewältigen und es ist gut, dass darüber nachgedacht wird. Für mich wäre wenn überhaupt die Frage der Senioren-WG von Belang, aber ich bin skeptisch, dazu bin ich zu sehr Individualist.

Ist das Ruhrgebiet auch bezüglich neuer Wohnformen spezifisch?
Speziell im Ruhrgebiet verfügen gerade die Älteren über noch mehr Familienrückhalt und kennen eine Art Nachbarschaftstradition, die müssten offen sein für kollektive Wohnformen. Andererseits haben hier viele ältere Menschen noch einen kleinen Garten, warum sollten die jetzt auf Alternativen umsteigen, wie sie in Berlin und München diskutiert werden? Das wird im Ruhrgebiet eher eine marginale Rolle spielen und nicht zu einer Bewegung werden.

Haben Sie einen Lieblingsort im Pott?
Eindeutig das Bermudadreieck, einer der wenigen Orte, wo ich meine Freunde noch zufällig treffe. Oder der Rhein-Herne-Kanal, da fahre ich gerne Fahrrad und die Emscherinseln bezeichne ich als mein privates Long Island. Das Ruhrgebiet war für mich eine prägende Dominante und ist noch immer meine Heimat, mit der ich mich verbunden fühle, und ich habe große Sympathie für die Menschen, die hier leben. Ich fühle mich hier zu Hause.

Das Interview erschien zuerst in trailer 04/15, online unter: www.trailer-ruhr.de