Es kann nicht nur den Einen geben (Leitartikel zum Thema Islam)

„Der Islam gehört zu Deutschland“. Was Ex-Bundespräsident Christian Wulff 2010 sagte, wiederholte Angela Merkel im Januar 2015 bei einer Kundgebung gegen islamistischen Terror, als Reaktion auf den Anschlag auf das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“. Aber diese Aussage ist unsinnig. Den Islam gibt es weder in Deutschland, noch sonst irgendwo. Der Islam fächert sich in verschiedene, einander teilweise spinnefeind gegenüberstehende Glaubensrichtungen und Subbewegungen auf. Das gilt nicht nur global, sondern auch für Deutschland. Selbst herunter gebrochen auf NRW, wo die Mehrheit der Muslime in Deutschland lebt, kann von „dem“ Islam nicht die Rede sein. Das deutsche Allgemeinwissen rund um den Glauben, zu dem sich weltweit etwa rund 1,5 Milliarden Menschen bekennen, wabert irgendwo zwischen den exotischen Märchen von 1001 Nacht und den Enthauptungsvideos des IS.

Wie komplex sich der Islam hierzulande präsentiert, verdeutlicht die Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ von 2008. Von der Deutschen Islam Konferenz in Auftrag gegeben, gilt diese erste bundesweite Befragung von Migranten auch 2015 noch als repräsentativ, ebenso wie die aus ihr hervorgegangene Zusatzstudie „Muslimisches Leben in NRW“ (2009). Die eindeutig größte Konfessionsgruppe stellen in NRW die Sunniten (80,4%). Mit großem Abstand folgen Aleviten (9,1%), die derzeit intern diskutieren, ob sie überhaupt zum Islam gehören, hinzu kommen Shiiten (6,1%), Ahmadi (0,4%), Sufi/Mystiker (0,2) und 3,7% „Sonstige“.

Wie der Islam insgesamt von Nicht-Muslimen wahrgenommen wird, darüber gibt eine Sonderauswertung des Religionsmonitors der Bertelsmann-Stiftung Auskunft. Ein Ergebnis der Umfrage von 2012 ist besonders ernüchternd: „Islamfeindlichkeit ist keine gesellschaftliche Randerscheinung, sondern findet sich in der Mitte der Gesellschaft“; das Image der vielfältigen Religion ist seitdem nicht besser geworden.

Diverse Akteure sind in Sachen Islam unterwegs, um das zu ändern. Denn anders als christliche Kirchen ist der Islam weniger hierarchisch. Eine höchste Autorität gibt es ebenso wenig wie einen formellen Aufnahmeakt, die Zahl der fest in Gemeinden organisierten Muslime ist unklar.

In neun Verbänden sind aber rund die Hälfte der Muslime in ganz Deutschland organisiert, vier davon üben den größten Einfluss aus. Mit 700-900 zu vertretenden Gemeinden steht die DITIB zahlenmäßig an der Spitze und würde gerne alle deutschen Muslime repräsentieren. Allerdings sind in ihr allein türkischstämmige Sunniten organisiert und sie ist dem Ministerpräsidentenamt in Ankara unterstellt, Imame und Geld kommen daher aus der Türkei. Auch der Verband islamischer Kulturzentren (VIKZ) vertritt Muslime mit türkischen Wurzeln. Multiethnisch sind der Islamrat der BRD und der Zentralrat der Muslime angelegt, die auch Stimmen von Gläubigen mit afrikanischen, arabischen oder bosnischen Wurzeln vertreten.

Ebenfalls verschiedenen Konfessionen will das erst im April 2015 auf Initiative der Konrad-Adenauer-Stiftung gegründete Muslimische Forum Deutschland Gehör verschaffen, zu deren Mitbegründern Prof. Dr. Mouchanad Khorchide oder Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor gehören. Letztere ist auch Vorsitzende des Liberal Islamischen Bundes. Dieser sieht sich „in der Verantwortung, die mehrheitlich liberalen Positionen des in Europa vorherrschenden Islamverständnisses zu vertreten“, fordert die dogmenfreie Diskussion des Koran und die Gleichstellung der Geschlechter wie die Anerkennung homosexueller Partnerschaften.

Auf kleinerer Ebene ist die Moschee das Zentrum einer jeden Gemeinde. Mal versteckt in Wohnsiedlungen, nicht einmal verraten durch ein Minarett, mal monumental wie die Merkez Moschee in Duisburg-Marxloh, die sich als interreligiöses und interkulturelles Begegnungszentrum versteht. Erst auf Gemeindeebende nähert man sich der Lebenspraxis von Muslimen, denn hier wird nicht nur der religiöse, sondern auch der weltliche Alltag organisiert. Die Aufgaben reichen weit über den Ruf zum Gebet hinaus: Seelsorge, Krankenpflege oder Jugendarbeit sind wie in christlichen Gemeinden zu bewältigen. Moscheegemeinden werden aber nicht wie Kirchen vom Staat anerkannt und unterstützt.

Dafür müsste „der“ Islam zuerst als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt werden, was aufgrund der beschriebenen Vielseitigkeit schwierig ist. Nicht der eine Islam, aber viele seiner Facetten sind Teil der deutschen Gesellschaft und somit unserer Kultur. Ob ein einzelner Islam oder überhaupt eine weitere, vom Staat anerkannte Religionsgemeinschaft wünschenswert ist, bleibt fraglich. Diskutiert werden sollte, ob nicht sämtliche Religionen ins Private gehören. Vor der Herausforderung, den Islam zu modernisieren, stehen die Muslime aber trotzdem. Denn neben der Fiktion von 1001 Nacht gibt es real eben auch 1000 Peitschenhiebe für Raif Badawi.

Zuerst erschienen in trailer 06/15, online unter: www.trailer-ruhr.de