Gattungsgrenzen sprengende Dokumentarfilme

Seit den ersten dokumentarischen Szenen der Filmgeschichte vor gut 120 Jahren hat sich der Dokumentarfilm als Gattung ausdifferenziert. Von Dziga Vertovs agitatorisch-experimenteller „Kino-Pravda“ über das französische Cinéma Vérité und das US-amerikanische Direct Cinema der 1960er, bis hin zu Essayfilmen im Stile Harun Farockis und den Mockumentarys eines Michael Moore. Entsprechend viele Definitionen gibt es heute. Neben der Non-Fiktionalität ist ein allgemein an Dokumentarfilme gerichteter Anspruch, wirklichkeitsnah oder authentisch zu sein. Mit Objektivität hat das nichts zu tun, denn Dokumentarfilme präsentieren stets einen bewusst gewählten Ausschnitt der Realität.

Im Oktober starten zwei die dokumentarische Form strapazierende Filme in den Kinos. Die österreichische Regisseurin Ruth Beckermann analysiert in „Waldheims Walzer“ die Affäre um den Ex-UN-Generalsekretär Kurt Waldheim. Während dieser 1986 um das Amt des österreichischen Bundespräsidenten kandidierte, traten Lücken in seiner Kriegsbiografie zutage. Konfrontiert mit dem Vorwurf mutmaßlicher Kriegsverbrechen, verstrickte sich der Kandidat in Widersprüche und zog sich auf die Position soldatischer Pflichterfüllung zurück. Er wurde zwar gewählt, blieb aber während seiner Amtszeit international isoliert. Die Causa Waldheim führte dazu, dass Österreich den Mythos, erstes Opfer der Nationalsozialisten gewesen zu sein, aufzuarbeiten begann. Beckermann war selbst Teil  der Anti-Waldheim-Proteste und somit persönlich involviert. Sie montiert eigenes Material und solches aus Archiven, um den Wahlkampf spannend wie einen Politthriller darzustellen. In Kombination mit ihrem retrospektiven Off-Kommentar wird der Kompilationsfilm so zu einer universellen Erzählung über die Mechanismen von Populismus, Fake News und das Schüren von Ressentiments, die wir 2018 mit der AfD oder Trump assoziieren.

Auch für Regisseurin Bernadett Tuza-Ritter wurde der Dreh zu „Eine gefangene Frau“ persönlich. Sie begleitete Marish, die in Ungarn als Haussklavin in einer Familie arbeiten muss. Ihr Lohn für nächtliche Fabrikarbeit wird ihr abgenommen, tagsüber erledigt sie den Haushalt. Zum Dank wird sie physisch wie psychisch misshandelt. Modernes Sklaventum dieser Art ist in Europa übrigens kein Einzelfall. Im Verlauf des Films fasst Marish aber Mut zu fliehen und baut sich ein selbstbestimmtes Leben auf. Wäre dies auch ohne die Präsenz der Kamera geschehen? Wurde das Umdenken durch das Reflektieren der eigenen Situation im Verlauf der Dreharbeiten motiviert? Hat die Regisseurin in die Realität eingegriffen und falls ja: Wie hätte sie es denn nicht tun können? Diese Fragen und eine extrem mutige Protagonistin machen „A Woman Captured“ zu einem spannenden Seherlebnis.

Der sowjetische Filmemacher Sergei Eisenstein sagte einmal: „In einem guten Film geht es um die Wahrheit, nicht um die Wirklichkeit.“ Ob die beiden ungewöhnlichen Werke diesem Credo gerecht werden, finden Sie am besten selbst im Kino heraus.

Dieser Text erschien im trailer ruhr-Magazin 10/18 und online auf:
www.trailer-ruhr.de
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Premiere von „HeimatKino – Kinokultur im Ruhrgebiet“ am 7.10. in Schauburg Gelsenkirchen

Der Kern des Kinos

Gelsenkirchen, den 7.10.: Fast jeder Mensch erinnert sich daran, wann er oder sie das erste Mal im Kino gewesen ist oder zumindest an das erste besondere Kinoerlebnis. Das hat mit dem dort gesehenen Film zu tun, aber auch mit der Atmosphäre: Schummriges Licht, schwere Samtvorhänge, gepolsterte Sitzreihen, abebbende Gespräche, die in erwartungsvolle Stille übergehen in dem Augenblick, wenn sich der Vorhang öffnet. Das Publikum ist bereit, sich für einen bestimmten Zeitraum in eine andere Welt entführen zu lassen und vielleicht sogar in etwas einzigartiges, völlig neues einzutauchen. Diese Magie des Kinos hat sich in den gut 120 Jahren seines Bestehens technisch zwar massiv verändert, die Formel ist im Kern aber gleich geblieben: Menschen lassen sich in einem dunklen Raum auf ein kollektives Seherlebnis ein.

Die Regisseure Daniel Huhn, Benjamin Leers und Stefan Kreis spüren mit ihrem Film „HeimatKino“ dieser Magie ebenso nach wie den Orten, an denen sie sich entfaltet hat und weiterhin abspielt. Chronologisch führt uns der 55-minütige Dokumentarfilm durch die Geschichte der Lichtspielhäuser der Region. Was mit den ersten Filmvorführungen im 19. Jahrhundert, damals noch als Jahrmarktsattraktion in Kneipen, beginnt, entwickelt sich zu einem boomenden Geschäft.

Nach 1945 lagen hier auch die meisten Kinos in Schutt und Asche, wurden aber wieder aufgebaut und läuteten eine goldene Ära ein. Wer ein hartes Leben hatte, flüchtete für kleines Geld ins Kino. Bald hatte jeder Vorort sein eigenes Filmtheater, zur Hochzeit waren es 500 allein im Ruhrgebiet. In den 1950ern konnten die Kinobetreiber die Eintrittsgelder „Mit der Schubkarre rausfahren“, wie Marianne Menze, heute Leiterin der Essener Lichtburg, erklärt. Historische Hintergründe liefert auch der gebürtige Essener Dietrich Leder, Professor der Kunsthochschule für Medien Köln. Andere Zeitzeugen berichten von dem ersten Kino, das in ihrer Straße eröffnete. Weiter erzählt „HeimatKino“ von der aufkommenden Konkurrenz des Fernsehens, der Gründung kommunaler Kinos und der Ära der Multiplexe bis in die Gegenwart. Heute sind von den 500 Lichtspielhäusern noch 50 Kinos übrig.

Wer kinotechnisch im Ruhrgebiet sozialisiert wurde, wird vor allem die kurzen Porträts der sieben Kinos bzw. Filmclubs wertschätzen, die auch Poträts ihrer BetreiberInnen sind. Wie im Fall des Essener Autokinos DriveIn oder der Postkutsche in Dortmund Aplerbeck präsentieren sie sich wie hartnäckige, kleine Inseln, am Leben erhalten durch überzeugte IdealistInnen. Andere wie das sweetSixteen in Dortmund haben sich etabliert und ein Stammpublikum für sich eingenommen, dass nicht nur das sorgfältig kuratierte Programm, sondern auch die persönliche Ansprache schätzt. Das Filmforum Duisburg behauptet sich als ältestes, kommunales Kino und ist gleichzeitig ein Ort, der Filmgeschichte dokumentiert und archiviert. Oder sie stehen – wie das Metropolis im Bochumer Hauptbahnhof – zumindest durch ihren Standort für eine längst vergangene Ära wie die der Bahnhofskinos mit ihrem durch B-Movies geprägten, non-stop laufenden Programm. Diesem Repertoire hat sich auch der geheimnisvolle Filmclub Buio Omega verschrieben, der jeden dritten Samstag im Monat ab 11 Uhr dem abseitigen, trashigen Film huldigt. Der Motor all dieser Orte ist Idealismus, der auch andere, in „HeimatKino“ nur angedeutete Kinos auszeichnet. Ob das endstation Kino im Bahnhof Langendreer, Astra, Eulenspiegel und Filmstudio in Essen oder Roxy und Schauburg in Dortmund.

Mit der Schauburg Gelsenkirchen findet die Premiere von „HeimatKino“ an einem würdigen Ort statt. Der große Saal ist nicht komplett, aber doch sehr gut gefüllt. Vor dem Screening führt Markus Köster, Leiter des LWL Medienzentrum für Westfalen, in den Abend ein und freut sich „Film zu erleben, wo er hingehört“. Köster erklärt außerdem, dass „HeimatKino“ auch in der schulischen Bildung zum Einsatz kommen wird. Wie nötig es ist, auch Jugendliche für Kino zu begeistern, zeigt sich auch im Altersdurchschnitt des Publikums. Das an die Vorführung anschließende Filmgespräch dreht sich passend dazu um die Frage, wie die Zukunft des Kinos aussehen wird.

Eine Frau wünscht sich beispielsweise im Revier mehr Filmfestivals als zeitlich und räumlich verdichtetes Kinoerlebnis: „Es schadet ja nicht, auch mal ein einen ganzen oder mehrere Tage in einem Kinosaal zu verbringen“. Eine kaum 18-Jährige denkt laut darüber nach, warum Kino bei ihren AltersgenossInnen nicht mehr so in ist und stellt fest, noch gar nicht alle Ruhrgebietskinos mit Programmen abseits des Mainstreams zu kennen.

Zum Abschluss fragt Daniel Huhn, ob jemand im Publikum beschreiben könne, was den Kern des Kinos ausmache. Schließlich meldet sich ein Mann mittleren Alters: „Sich bewusst an einen Ort zu begeben, wo man sich im Dunkeln ohne Ablenkung durch äußere Einflüsse für eine gewisse Zeit auf einen Film einlässt, diesen mit anderen gemeinsam ansieht und danach darüber spricht. Das ist für mich der Kern des Kinos.“ Dieses Statement und das gesamte Projekt „HeimatKino“ machen Lust, die besondere Kinokultur des Ruhrgebiets für sich zu entdecken und all den FilmenthusiastInnen zwischen Dortmund und Duisburg mindestens einen Besuch abzustatten. Solange es sie gibt, ist es um die Zukunft des Kinos gut bestellt.

Die Einzelporträts sind auf den Kinoseiten bei trailer-ruhr.de zu finden. Auf großer Leinwand werden sie im Wintersemester 2018/19 im Studienkreis Film der Ruhr-Universität Bochum als Vorfilm zu sehen sein: www.skf-kino.de
Weitere Infos unter: heimatkino.ruhr

Der Artikel ist Online unter der Rubrik „Foyer“ erschienen auf www.trailer-ruhr.de

Leitartikel zum Thema RECHTSBLIND (trailer ruhr-Magazin 09/18)

Frage ich mich, ob wir mit Rechten reden müssen, fühlt es sich an, als grübelte ich zu lange über die Unendlichkeit des Universums: Mein Gehirn wäre lieber woanders. Ob und wie wir mit Rechten reden, mit rechtspopulistischen bis rechtsextremistischen Menschen, Tendenzen, Aussagen oder Parteien in unserer Gesellschaft umgehen, hängt von vielen Faktoren ab: Von den Personen, die (gegebenenfalls) miteinander sprechen, dem Ort an und dem Rahmen in dem dies geschieht und nicht zuletzt davon, wer zuhört.

Was unter bestimmten Voraussetzungen richtig ist, kann unter anderen unmöglich sein. Wenn Volkhard Knigge, Direktor der Gedenkstätte Buchenwald, nach dem Gespräch mit dem AfD-Abgeordneten Stephan Brandner feststellt, dass es keinen Sinn ergibt, mit Vertretern der AfD zu sprechen, weil diese ihre geschichtsrevisionistischen Positionen gar nicht diskutieren wollen, ist das nachvollziehbar. Eine Demonstration ist kein Ort, mit denen, gegen deren Ideologie man ein öffentliches Zeichen setzen will, in einen sinnvollen Austausch zu gelangen. In Landtagen und im Parlament ist es seit der letzten Bundestagswahl für PolitkerInnen dagegen unmöglich, den Dialog mit der AfD per se zu verweigern. Medien reflektieren seitdem kritischer, ob und wann sie RechtspopulistInnen zu Wort kommen lassen oder deren Themen aufgreifen. Im ZDF-Sommerinterview, das Thomas Walde im August mit Alexander Gauland vor allem zu Rente, Klima und Digitalisierung führte, ging es nicht um die Bekehrung Gaulands. Den ZuschauerInnen wurde dafür aufgezeigt, dass Gauland und die AfD jenseits der Flüchtlings- und Migrationsthematik sehr schlecht informiert sind. Das Argument, Rechte müssten als Feinde der Demokratie von dieser ausgegrenzt werden, ist nicht in allen Kontexten umsetzbar und hat auch nicht den gewünschten Erfolg erzielt. Nicht zuletzt, weil manche Menschen die AfD vielleicht nicht trotz sondern wegen ihrer rechtsextremistischen Ansichten und Mitglieder wählen.

Wer mit Rechten reden will, ob in Sozialen Netzwerken oder analog am Arbeitsplatz, im Familien- und Freundeskreis, sieht sich allerdings oft mit der Herausforderung konfrontiert: Wie streite ich mit Personen, die die Regeln der Streitkultur selbst nicht einhalten? Mit diesem Dilemma beschäftigt sich der Bochumer Philosoph Daniel-Pascal Zorn. 2017 hat er mit Per Leo und Maximilian Steinbeis das Buch „Mit Rechten reden“ veröffentlicht, das kein How-to-Ratgeber ist, aber die Lust am Streit als produktives Instrument der pluralen Demokratie stärken will. Zorn selbst kommentiert auf Facebook oder seinem Blog „Die Kunst der Rechtfertigung“ politische Ereignisse und legt logische Fehlschlüsse in den Argumentationen seiner DiskussionspartnerInnen offen. Aber auch Nicht-PhilosophInnen gab er in der WDR5-Sendung „Neugier genügt“ praktische Tipps für den nächsten Streit: Aussage und Person trennen, StreitgegnerInnen wirklich zuhören (also nicht die eigene Antwort im Kopf formulieren, wenn man selbst nicht spricht) und offen für die Erkenntnis bleiben, dass die eigene Überzeugung nicht die allein gültige sein könnte. Das sind für ihn basale Grundvoraussetzungen einer Streitkultur.

Im besten Fall gehe ich so offener in Diskussionen und achte Regeln, die ich von meinem Gegenüber einfordere. Konfrontiert mit der Aussage, die AfD sei keine rassistische, extremistische Partei, dürften uns so ausgestattet doch gute Gegenargumente einfallen. Behauptungen, die Regierung plane einen großen Bevölkerungsaustausch und Merkel gehöre zur Gattung der Reptiloiden, können wir immerhin kritisch hinterfragen und Belege einfordern. Wenn jemand diese aber partout nicht liefern, nicht argumentieren oder zuhören will oder gar beleidigend wird, kann ein Gespräch immer noch abgebrochen werden.

Jeder von uns muss im Einzelfall entscheiden, ob und wie wir auf rechte Aussagen reagieren und wo wir die Grenze ziehen, an der Reden für uns nichts mehr bringt. Wer sich aber jedem Diskurs mit Rechten mit Verweis auf Sinnlosigkeit, verlorene Lebenszeit oder dem Argument, Argumente brächten nichts, verweigert, ist längst schon mittendrin. Zwei Gegenfragen scheinen mir die besten Argumente, im Gespräch zu bleiben, so kräftezehrend es auch sein mag. Erstens: Warum sollten wir denn nicht mit Rechten reden, was haben wir zu verlieren? Zweitens: Wenn wir es nicht mehr tun, was wollen wir stattdessen machen, das unseren eigenen, demokratischen Prinzipien nicht Hohn spricht? Fühlen Sie sich frei, mir zu widersprechen.

Dieser Text erschien im trailer ruhr-Magazin 09/18 und online auf:
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