Schnitt-Symposium der Kölner Dokumentarfilminitivative in Film&TV Kamera

Die Kölner Dokumentarfilminitivative (dfi) veranstaltete am 19. und 20. Januar im ausgebuchten Filmhaus ein dicht programmiertes Symposium zum Thema „Konstellationen dokumentarischer Montage und Dramaturgie“.

Wer zehn filmische Einstellungen in der Montage miteinander verknüpfen will, hat dafür 3.628.800 unterschiedliche Möglichkeiten. Das verrät die Kombinatorik. Allein diese schiere Zahl, die Filmemacherin und Editorin Gabriele Voss in ihrem Vortrag „Erzählstrategien – Montageformen“ aufgriff, verursachte Schwindel. Eine ähnliche Wirkung hinterließ auch das Symposium insgesamt. Das lag nicht nur an der sehr dichten Taktung. Auch das inhaltlich und thematisch herausfordernde Konzept, das Philip Widmann im Auftrag der dfi kuratierte, hatte es in sich.

Expert*innen verschiedener Gewerke, aus Filmtheorie und -praxis waren nach Köln eingeladen, um zwei Tage lang anhand von Werkstattgesprächen, Vorträgen, gemeinsamen Sichtungen und Diskussionen über das Verhältnis von Dramaturgie und Montage miteinander ins Gespräch zu kommen. Die ausgewählten Dokumentarfilme lieferten dafür die Grundlage. Sichtungen und Filmgespräche zu „Regeln am Band bei hoher Geschwindigkeit“ (mit Regisseurin Yulia Lokshina und Editorin Urta Alfs), „Unas Preguntas“ von Kristina Konrad, die anhand von Ausschnitten mit ihrem Editor René Frölke über die langjährige Genese des vierstündigen Dokumentarfilms aufzeigte und ein Double Feature von Marian Maylands aktuellen Filmen „Me and Michael Ironside“ und „Lamarck“ standen auf dem Programm. Allerdings wurden hier Inhalt und Kontext der Filme intensiver diskutiert als der titelgebende, rote Faden verfolgt.

Eng am Material wurde dafür der 67-minütige Dokumentarfilm „Purple Sea“ besprochen. Er basiert auf Originalaufnahmen, die Regisseurin Amel Alzakout bei ihrer Flucht aus Syrien über das Mittelmeer 2015 filmte, indem sie sich eine wasserdichte Kamera ans Handgelenk band. Ihr Boot sank vier Kilometer vor der Küste von Lesbos. Stundenlang wartete sie mit hunderten anderer Menschen im Wasser auf Rettung, nicht alle überlebten. Die See ist dabei ständig in Bewegung, die Kamera auch und wir mit ihr. Es gibt keinen Halt, keine Orientierung. Sind wir unter oder über dem Wasser? Gemurmel, Schreie, dann wieder Stille und das Schnappen nach Luft. Darüber der Off-Kommentar einer unzuverlässigen Erzählerin, die verschiedene – einander teilweise widersprechende – Varianten einer Geschichte nach dem Unglück erzählt. Die chaotischen Bilder…

Der vollständige Text ist erschienen in Film & TV Kamera 3/23, S. 64-65.

„Der vermessene Mensch“ – Kritik in der Freitag

Lars Kraume beleuchtet eines der grausamsten Kapitel deutscher Kolonialgeschichte: den Völkermord an den Herero und Nama. Das Dilemma, Verbrechen zu zeigen und sie dabei zu reproduzieren, löst der Film nicht

„Wir verlangen unseren Platz an der Sonne“, forderte Staatssekretär Bernhard von Bülow 1897 in seiner Rede im Auswärtigen Amt im Kontext deutscher Kolonialpolitik. Die begann offiziell schon 1884 mit dem „Erwerb“ Deutsch-Südwestafrikas (heutiges Namibia). Auch wenn die deutsche Kolonialgeschichte im Vergleich zu der anderer Imperialmächte mit der erzwungenen Abtretung der „Schutzgebiete“ 1915 früh endete, ist sie nichtsdestotrotz reich an Gewalt, Missbrauch und Massakern – und doch in der heutigen Öffentlichkeit wenig präsent.

Unter dem Arbeitstitel Ein Platz an der Sonne firmierte auch der neue Historienfilm von Regisseur Lars Kraume, der jetzt als Der vermessene Mensch in den Kinos startet. Erzählt wird die Geschichte aus Sicht des fiktiven Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher), der Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin im Fach Ethnologie promoviert. Die Physiognomik als Methode der „Rassentheorie“ ist da gerade en vogue. Schädel werden vermessen und Gehirngrößen verglichen, um die vermeintliche Überlegenheit des weißen „Herrenvolkes“ datenbasiert zu belegen. Was heute als pseudowissenschaftliche Grundlage von Rassismus gilt, war damals State of the Art in der Wissenschaft.

Der junge Doktorand aber zweifelt die daraus gefolgerte Minderwertigkeit aller nicht-weißen Menschen an. Erst recht, nachdem er bei der Deutschen Kolonialausstellung 1894 eine Delegation der Herero und Nama in Berlin trifft. Besonders die Begegnung mit der eloquenten und intelligenten Kezia Kunouje Kambazembi (Girley Charlene Jazama), die als Dolmetscherin mitgereist ist, bestätigt ihn. Rund zehn Jahre später zieht es Hoffmann selbst nach Deutsch-Südwestafrika. Im Schutz der kaiserlichen Truppen, mit dem Vorsatz, die Bevölkerung vor Ort zu erforschen, seine Theorie zu beweisen, und dem heimlichen Wunsch, Kenouje wiederzusehen, erlebt er die Niederschlagung der Aufstände von Herero und Nama mit. Anfangs noch schockiert…

Der Text ist erschienen in der Freitag 12, 23.03.2023 (Print) und Online abrufbar hier.