Leitartikel zum Thema GLÜCK

Wir müssen nur wollen

Bei einem Samenerguss werden im Schnitt zwei bis sechs Milliliter Ejakulat ausgestoßen. Von den darin enthaltenden Spermien landen rund 300 Millionen in der Scheide, wiederum nur ein Teil davon nimmt den Hindernisparcours des Eileiters in Angriff. Nur circa 300 erreichen die Eizelle, das macht 0,0001 Prozent der ursprünglichen Suppe. Was das alles mit Glück zu tun hat? Selbst wenn man sonstige, die Fruchtbarkeit beeinflussende Faktoren außen vor lässt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass neues Leben bei einem Akt zustande kommt, gering. Wenn auch größer als die, sechs Richtige im Lotto zu tippen (0,0000064 %). Obwohl mehr Kinder geboren werden als Lottogewinner jubeln, dürfte sich jeder von uns rein qua Geburt ständig als ausgesprochener Glückspilz fühlen.

Aber auch wenn kein Mangel an existentiellen Dingen wie Wasser, Nahrung, Obdach, Kleidung und an sozialen Annehmlichkeiten wie freundschaftlichen, familiären oder sexuellen Beziehungen besteht, hüpft niemand von uns unablässig von purem Glück beseelt durch Gegend. Im Gegenteil. Laut einer Schätzung der WHO wird die depressive Störung 2020 die weltweit zweithäufigste Erkrankung darstellen. Stehen wir in den westlichen Industrienationen auf Kriegsfuß mit dem Glück? Schließlich gilt Deutschland nicht nur als Land der Dichter und Denker, sondern auch als das der notorischen Nörgler.

Nicht wenn man dem World Happiness Report 2015, der am 23.4. in New York vom Earth Institute der Columbia Universität veröffentlicht wurde, glaubt. In Puncto Glücksempfinden steht die BRD auf Rang 26 von 160 Ländern passabel dar. Am glücklichsten sind dem Ranking zufolge die Schweizer, aber auch Westeuropa insgesamt schneidet sehr gut ab, stellt mit Island, Norwegen, Finnland, den Niederlanden und Schweden noch fünf weitere der zehn glücklichsten Staaten. Einen Eindruck unseres nationalen Glücksempfindens vermittelt der Glücksatlas der Deutschen Post von 2014, dessen Datenbasis Umfragen des Allensbacher Instituts und die repräsentativen Erhebungen des Sozioökonomischen Panels (SOEP) bilden, das seit mehr als 30 Jahren Wiederholungsbefragungen in Privathaushalten durchführt und auch „subjektive“ Daten zur Lebenszufriedenheit sammelt. Deutschland befindet sich demzufolge seit vier Jahren auf einem „Zufriedenheitsplateau“, das Ruhrgebiet und Westdeutschland schneiden im guten Mittelfeld ab, hinter dem noch zufriedeneren Norden und vor dem mürrischen Osten.

Abgesehen von der Geografie: Wo finden wir unser individuelles Glück? Natürlich im Internet. Bei der Eingabe des Schlagwortes „Glück“ in den Amazon-Bücherkatalog werden dem Glückssuchenden 31.537 Ergebnisse geliefert. Die Ratgeberliteratur, die mannigfaltige Wege zum ultimativen Glück verspricht, boomt seit Jahren ebenso wie Seminare bei sogenannten Lifecoaches. Rund ums Thema Glück pulsiert eine ganze Industrie, die weniger nach dem „pursuit of happiness“ der Konsumenten, als nach Vermehrung der eigenen Einkünfte lechzt.

Kann uns die Wissenschaft Antworten liefern? Akademisch versucht sich die Glücksforschung seit den 1980er Jahren als empirische Wissenschaft zu etablieren. Der Soziologe Alfred Bellebaum gilt als Pionier des deutschen Forschungszweigs, in deren Teilbereichen sich u.a. Philosophen, Neurobiologen, Soziologen oder Psychologen mit Problemen der Gegenstandsbestimmung, Methodik, Messbarkeit und der Theoriebildung kämpfen. Die US-Journalistin Barbara Ehrenreich ist eine der bekanntesten Kritikerinnen des Teilbereichs der Positiven Psychologie. In ihrem 2009 veröffentlichten Sachbuch „Smile or Die: Wie die Ideologie des positiven Denkens die Welt verdummt“ konstatiert sie, dass das positive Denken das Glück als Mittel zum Zweck instrumentalisiert, um im Sinne des Marktes unser aller Leistungsfähigkeit zu steigern.

So interpretiert, fügt sich das Produkt Glück™ nahtlos in den Kapitalismus ein. Das „Streben nach Glück“ impliziert ja auch die Arbeit, die damit verbunden ist. Glück fällt nicht einfach so vom Himmel, wenn jeder seines eigenen Glückes Schmied ist. Daraus resultiert vielmehr, dass wir alle glücklich sein können – wenn wir uns nur hart genug darum bemühen.

Wie die Schönheit liegt auch das Glück stets im Auge des Betrachters. (Markt)Forschung und Ratgeber können uns nicht sagen, wie glücklich wir sind und auch nicht, wie wir es werden. Fangen wir doch damit an uns gemeinsam darüber zu freuen, dass wir erfolgreich 299.999.999 andere Spermien abgehangen haben, um bis hierhin zu kommen. Wer dann unbedingt noch den Vergleich sucht: Zu den Schlusslichtern im World Happiness Report gehören u.a. die Bevölkerungen Afghanistans und Syriens. Glücklich macht diese Information gewiss nicht, sie regt aber zum Nachdenken an.

Zuerst erschienen in trailer 05/16, online unter: www.trailer-ruhr.de