Thementext GIRLHOOD in epd film 01/2024

»Barbie« hat gezeigt, dass man mit Filmen für weibliches Publikum richtig Kasse machen kann. Und Gerwigs Blockbuster markiert nur die Spitze eines Trends: Das Kino entdeckt Mädchen und junge Frauen als Zielgruppe wieder.

»It is literally impossible to be a woman. [. . .] We have to always be extraordinary, but somehow we’re always doing it wrong.« Mit dieser Aussage beginnt America Ferreras Monolog in »Barbie«. Sie zählt darin auf, wie schwierig und im Grunde unmöglich es ist, all die paradoxen Herausforderungen zu erfüllen, die an Frauen gestellt werden. Aber niemand – bis auf Barbie selbst – ­wird als Frau geboren. Die Gesellschaft mit ihren Normen und Rollenerwartungen beeinflusst das Selbst- und Fremdbild von Mädchen und Teenagern. Dass sie in ihrer Kindheit, Jugend und Pubertät zwangsläufig andere Erfahrungen machen als Jungen, interessierte das Kino allerdings jahrzehntelang nicht. Das ändert sich allmählich. Molly Manning Walkers »How to Have Sex« oder Catherine Corsinis neuer Film »Rückkehr nach Korsika«, der in Cannes lief und demnächst bei uns ins Kino kommt, sind dafür aktuelle Beispiele: Beide erzählen authentisch und mit komplexen Frauenfiguren im Mittelpunkt davon, wie es ist, als Mädchen oder junge Frau in dieser Welt zurechtzukommen. 

Wie revolutionär das ist, zeigt ein Rückblick in die Genese des Genres, das diesen Lebensabschnitt in den Blick nimmt wie kein anderes: der Coming-of-Age-Film. Das aufgrund seiner schieren Reichweite Stereotype prägende und Diskurse bestimmende US-amerikanische Kino spielte dabei eine wichtige Rolle. Coming-of-Age als Genre lässt sich nicht genau definieren, weist Überschneidungen mit Komödie, Drama oder dem Horrorfilm auf. Es entstand in den frühen 1950er Jahren, als Hollywood eine bis dato unbekannte Zielgruppe für sich entdeckte: Teenager. Damit waren allerdings vor allem junge, weiße Männer an der Schwelle zum Erwachsenwerden gemeint. In frühen Meilensteinen wie »Der Wilde« mit Marlon Brando (1953), . . . »Denn sie wissen nicht, was sie tun« (der James Dean 1955 zum Ruhm katapultierte) oder »Sie küssten und sie schlugen ihn«, mit dem François Truffaut 1959 die Nouvelle Vague mitbegründete, sind adoleszente Männer Motor und Fluchtpunkt der Handlung. 

Männliche Figuren und ihre Konflikte veränderten sich in den folgenden Jahrzehnten, wurden komplexer, sexuell aktiv und tummelten sich in verschiedenen soziokulturellen Milieus. Die Rolle der jungen Frau – ­so sie denn überhaupt vorkam – tangierte das nicht. In »Die Reifeprüfung« von 1967 ist Elaine nur das passive Love Interest von Benjamin Braddock, in »American Graffity« sorgen die Girlfriends der Männerclique für Stress. 1983 inszenierte Francis Ford Coppola…

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Aus sicherer Entfernung

Einleitung zur Essayreihe „Distanzmontage“ im Auftrag der Duisburger Filmwoche 2023

Kollektives Filmerleben wird in Duisburg seit fast 50 Jahren durch anschließende Gespräche in den öffentlichen Raum des Diskussionssaals verlängert, die dort ausgetauschten Seherfahrungen und Gespräche in den Protokollen festgehalten. Die gezeigten Filme wirken so in mehrfacher Hinsicht nach. Seit 2020 ist das Protokoll-Archiv virtuell zugänglich und um einen Blog mit weiteren Texten zum Dokumentarfilm ergänzt worden. Für die aktuelle Textreihe haben wir 2023 Journalistinnen, Wissenschaftlerinnen, Filmemacher und -vermittlerinnen eingeladen, dort in der Festivalhistorie nach verbindenden Elementen zu suchen: Zwischen den in Duisburg gezeigten Filmen und den in ihnen und im Anschluss an sie verhandelten Diskursen. Ihre Ausgangspunkte sind – neben den Filmen der 46. Duisburger Filmwoche 2022 – ausführliche Recherchen in unserem Protokoll-Archiv. Ihre Texte erscheinen hier unter dem Titel Distanzmontage.

Der Begriff Distanzmontage geht auf den armenischen Dokumentarfilmregisseur Artavazd Peleschjan zurück. Ihre Besonderheit liegt darin, „daß eine Montageverbindung über Abstände hinweg nicht nur Einzelelemente als solche […] verknüpft, sondern auch […] ganze Elementkomplexe wobei es zu einer Wechselwirkung zwischen einem Prozeß mit einem anderen, ihm kontroversen Prozeß kommt. Dies nenne ich das Blockprinzip der Distanzmontage.“1 Peleschjan geht davon aus, so die Wahrnehmung für das filmische Erleben zu intensivieren. Mit jeder neu hinzukommenden Einstellung soll das zuvor Gesehene neu bewertet, definiert und reflektiert werden. Fast so, als würden wir einen Film mit jeder Szene erneut rekapitulieren und am Ende nochmals rückwärts lesen.

Um eine gedankliche Einkreisung, die im Rückblick bisher Unverbundenes zueinander in Bezug setzt, bemühen sich auch die hier versammelten Texte. Wie bei der Distanzmontage ergibt sich durch die rückwärtige Lektüre eine neue Sicht auf die Filme, aber auch auf Fragen und Diskurse, die darüber hinausweisen.

Michelle Koch denkt über Spannungs- und Machtverhältnisse innerhalb der Konstellation Protagonist:in – Regie – Publikum nach und fragt, wer hier eigentlich das Wort hat. Marion Biet beschreibt, wie sich das Verhältnis von Untertiteln mit und im Bild in den letzten Jahrzehnten verändert hat und streift ebenfalls Fragen der Übersetzung zwischen kulturellem Transfer und bewusster Auslassung. Petra Palmer widmet sich den sozialen Räumen, die Dokumentarfilme abbilden, (re)konstruieren und antizipieren – ästhetisch oder in utopischen Konzepten – und wie sich Menschen darin situieren oder diese subversiv unterlaufen. Ausgehend von der ersten gemeinsamen Konferenz mit unserem Partnerfestival doxs! dokumentarfilme für kinder und jugendliche überlegt Mirjam Baumert, wie Dokumentarfilmen und Kurator:innen ein intergenerationeller Dialog gelingen kann. Oliver Schwabe wendet sich Filmen zu, die das Fernsehen historisieren, untersucht die Mitwirkung des Mediums an meinungsbildenden Prozessen und schildert seine persönlichen Erfahrungen im Umgang mit TV-Archivmaterial. Fiona Berg schließlich betrachtet, wie Natur als Resonanzraum für die teils romantisierten Sehnsüchte der urbanisierten Gesellschaften inszeniert und vereinnahmt wird, statt sie in ihrem Wert an sich und in ihrer verletzlichen Vergänglichkeit filmisch zu respektieren und zu bewahren.

Die Texte selbst laden dazu ein, die Programmhistorie der Duisburger Filmwoche noch einmal zu rekapitulieren und dabei neue Standpunkte, Diskurse oder schlicht noch ungesehene Dokumentarfilme zu entdecken.

1 Zitiert nach: Norbert M. Schmitz: „Distanzmontage als modernes Kunstprinzip. Artavazd Peleschjans Theorie und Praxis der Montage“ in: montage AV 20/1/2011.

Die Texte der Essayreihe erscheinen sukzessive auf dem Blog der Duisburger Filmwoche und können hier online abgerufen werden.
Als verantwortliche Redakteurin habe ich gemeinsam mit den Verantwortlichen der Filmwoche Themen erarbeitet, Autor*innen gesucht und die Veröffentlichung der Texte betreut.

Alcarràs – Die letzte Ernte (epd Film)

Das Porträt einer Großfamilie fesselt durch die genaue Beobachtung des landwirtschaftlichen Lebens, der familiären Dynamik und ein fantastisches Laienensemble

Pfirsichbäume, so weit das Auge reicht. Wind, der sanft durch Blattwerk raschelt. Regen, der auf das Land hinunterprasselt. Das rot-gelbe Leuchten der reifen Früchte. Immer wieder verweilt der Blick auf der Schönheit dieser Obstplantage in Alcarràs im Nordosten Spaniens. Seit Jahrzehnten werden hier von der Familie Solé Pfirsiche angebaut, gehegt und geerntet. Es ist ein hartes Geschäft für alle Beteiligten und die Existenzgrundlage von drei Generationen. Doch die Tage der Plantage sind gezählt. Der Vater von Opa Roger (Albert Bosch) hatte einst im Spanischen Bürgerkrieg die Großgrundbesitzer versteckt und ihnen so das Leben gerettet. Als Dank dafür wurde das Land damals an die Familie Solé übergeben, per Handschlag. Einen schriftlichen Vertrag gibt es nicht. Jetzt hat der offizielle Grundbesitzer Pinyol neue Pläne und teilt den Solés mit, dass die Plantage nach der letzten Ernte einem Solarpark weichen muss.

»Alcarràs – Die letzte Ernte« gewann überraschend den Goldenen Bären bei der diesjährigen Berlinale. Überraschend deswegen, weil das ausschließlich mit Laien besetzte und langsam erzählte Familienporträt kein kontroverser Film und nur in Ansätzen politisch ist. Das Interesse von Regisseurin Carla Simón richtet sich ganz auf die generationenübergreifende Dynamik der Großfamilie und die landwirtschaftliche Arbeit, was auch den Reiz des Films ausmacht….

Der Text ist erschienen in epd 4/22 oder online in voller Länge lesbar hier.

Halb so wild (der Freitag)

Mit „Jurassic World: Ein neues Zeitalter“ endet das Dino-Franchise, das 1993 mit „Jurassic Park“ seinen Anfang nahm. Was verrät der Blockbuster rund um Dinosaurier, die plötzlich mitten unter uns leben, über uns selbst?

Dank Steven Spielbergs Jurassic Park brannten sich Anfang der 1990er-Jahre Dinosaurier als lebende, atmende und fressende Wesen in das popkulturelle Gedächtnis einer ganzen Generation ein. Insgesamt waren die computertechnisch animierten Dinosaurier lediglich eine Viertelstunde lang auf der Leinwand zu sehen, aber die Wirkung war durchschlagend. Der Film faszinierte ein Millionenpublikum und löste eine Dino-Mania aus, die sich sogar in der Wissenschaft bemerkbar machte. Die für verstaubt gehaltene Paläontologie bekam ein ganz neues Image, was der Disziplin zeitversetzt sogar dringend nötigen Nachwuchs bescherte. Filmhistorisch setzte Jurassic Park Maßstäbe in der Computer-Generated-ImageryTechnik (CGI) und begründete ein Dino-Franchise, das noch heute eine riesige Fanbase hat, die nostalgisch auf den ersten Film zurückblickt.

Am 8. Juni kommt mit Jurassic World: Dominion (deutscher Verleihtitel Jurassic World 3: Ein neues Zeitalter) der vermutlich letzte Teil der zweiten Trilogie in die deutschen Kinos. Wie wirkmächtig die nostalgischen Gefühle noch heute sind, zeigte sich Ende Mai bei der Deutschlandpremiere im Kölner Cinedom. Regisseur und Teile des Ensembles flanierten über den roten Teppich und an einem lebensgroßen T-Rex-Modell vorbei. Fans und Journalist*innen – oft in Personalunion – beklatschten artig Colin Trevorrow und seine Stars Mamoudou Athie, DeWanda Wise und Bryce Dallas Howard. Aber erst als Jeff Goldblum, als Dr. Ian Malcolm ein Urgestein des Franchise, der Limousine entstieg, brüllten alle euphorisch durcheinander.

Als Auftakt der neuen Trilogie (die alte hatte mit dem 2001 gestarteten Jurassic Park III ein etwas unbefriedigendes Ende gefunden) gelang Jurassic World 2015, nun mit Chris Pratt als Dino-Zähmer, schon gleich ein neuer Rekord. Als erster Film der Geschichte spielte er am Startwochenende mehr als 500 Millionen Dollar ein und knackte nach zwei Wochen bereits die Eine-Milliarde-Dollar-Marke. Ein solider Grundstein für eine neue Trilogie also. Die Fans strömten ins Kino, auch wenn sie angesichts hybrider Monster, sinnlos gekillter Lieblingsdinos, mit Klickern abgerichteter Raptoren und insgesamt zu viel CGI enttäuscht waren. Die Freilassung der Dinosaurier in die Zivilisation am Ende des Folgefilms The Fallen Kingdom (2018) weckte jedoch neue Hoffnung auf ein furioses Finale. Als dann noch bekannt wurde, dass mit Jeff Goldblum, Sam Neill und Laura Dern der Cast von 1993 in Dominion auf den Nachwuchs aus Jurassic World treffen würde, explodierten Begeisterung und Spekulationen in den sozialen Medien.

Auf ein maximal breites Publikum ausgelegt, verraten Blockbuster immer etwas über den Zeitgeist, in dem sie entstehen. Jede Ära bekommt mithin den Blockbuster, den sie verdient, und das macht die Ausgangssituation von Dominion besonders interessant: Kann die Menschheit mit Dinosauriern koexistieren? Spiegeln sich darin die realen Herausforderungen von Klimawandel und Artensterben? Lernt die Menschheit endlich Demut?

Hier geht’s zum online in der Freitag.
Der Text ist zuerst erschienen in Print in: der Freitag, 9. Juni, 23. Ausgabe, S. 23.

Nicht verRecken

Protokoll zu Filmscreening & Diskussion im Rahmen der 45. Duisburger Filmwoche

Eine alte Frau blickt in die Kamera, zögert kurz und sagt dann leise: „Gott sei Dank vergisst man. Erst wenn man danach gefragt wird, erinnert man sich und merkt, dass sich da doch etwas eingebrannt hat“. Sie spricht als eine der letzten Zeitzeuginnen über einen der sogenannten „Todesmärsche“, der 1945 ihr Dorf passierte. In der Endphase des Zweiten Weltkrieges wurden tausende entkräftete KZ-Häftlinge dazu gezwungen, die frontnahen Lager zu verlassen. Ohne geeignete Kleidung und Versorgung mussten sie bis zu 40 Kilometer am Tag marschieren. Wer zusammenbrach, wurde sofort erschossen. Ein historisch gut erforschtes, aber in der kollektiven Erinnerungskultur wenig präsentes Kapitel nationalsozialistischer Verbrechen. Das Zitat der Zeitzeugin zeigt: Vergessen ist keine Option, weder für die Opfer und die Überlebenden, noch für unsere Gesellschaft. Aber können wir auch filmisch an den Holocaust erinnern?

Diese Frage ist nicht neu und berührt das Dilemma, Bilder für etwas zu finden, was sich unserer Vorstellungskraft gänzlich entzieht. Claude Lanzman hat in diesem Kontext einmal gesagt, fände er authentische Bilddokumente aus den Gaskammern, würde er sie sofort vernichten. Mit „Shoah“ (1985) etablierte er stattdessen die Methode, Orte aufzusuchen, denen die dort verübten Verbrechen nicht mehr anzusehen sind. Für „Nicht verRecken“ orientiert sich Martin Gressmann an diesem Konzept…

Der vollständige Text ist online auf Protokult, der Online-Plattform für die Protokolle der Duisburger Filmwoche, erschienen. Hier geht’s direkt zum Text.

Außerdem erschienen in diesem Rahmen Protokolle von mir zu:

Köy (R: Serpil Turhan)
Herr Bachmann und seine Klasse (R: Maria Speth)
Zuhurs Töchter (R: Laurentia Genske, Robin Humboldt)

„Male or Female? Yes!“ (Missy Magazine)

Zwanzig Jahre nach der Doku „Gendernauts“ trifft Monika Treut die damaligen Protagonist*innen wieder.

Die wohl bekannteste Szene aus „Gendernauts“: Stafford schaut in die Kamera und gibt an, auf die häufig gestellte Frage „Are you male or female?“ stets mit „Yes!“ zu antworten. Monika Treuts Dokumentarfilm von 1999 setzte trans Menschen wie Stafford erstmals respektvoll ins Bild und porträtierte die vibrierende queere Szene San Franciscos zu einer Zeit, in der Gendergrenzen zu fließen und sich scheinbar aufzulösen begannen.

Rund zwanzig Jahre später besucht die Regisseurin ihre Protagonist*innen von einst. Die damals florierende Szene ist heute durch Tech-Boom und Gentrifizierung weitgehend verschwunden. Auch Stafford hat die Bay Area verlassen und lebt heute als Mann. Andere sind geblieben, ihr Kampf um Akzeptanz geht weiter. So wie Susan Stryker, Pionierin auf dem Feld der Transforschung. Oder Publizistin und Computergeek Sandy Stone, die sich als eine der ersten MtF (Male to Female) der USA in den 1970er-Jahren für eine „geschlechtsangleichende Operation“ entschied und heute mit über achtzig Jahren einen alternativen Radiosender leitet. Die cisgeschlechtliche Verbündete und Ex-Pornodarstellerin Annie Sprinkle wiederum ist als „Ökosexuelle“ unterwegs und engagiert sich mit ihrer Partnerin Beth für Klimaaktivismus.

Jede dieser von Offenheit und Vertrauen zur Regisseurin geprägten Begegnungen rahmt Bildgestalterin Elfi Mikesch mit großartigen Einstellungen und in satten Farben…

Erschienen in: Missy Magazine 05/21 (Print). Hier geht’s zum vollständigen Artikel.

Die Schnittmeisterin (an.schläge)

Keine österreichische Filmeditorin hat mehr Filme und Serien montiert als Ingrid Koller. Jetzt wird sie in Deutschland für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.

Frauenfiguren die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, muss aber irgendwann doch lachen. Dass der Film Noir mit seinen ironischen Gesangseinlagen und jeder Menge Hardboiled-Klischees heute noch funktioniert, ist vor allem Ingrid Koller zu verdanken. Ihre Montage an „Müllers Büro“ offenbart ihr Können und die Herausforderung des perfekt getimten Komödien-Schnitts.

Dabei war es für sie kein Kindheitstraum, „Filmeditorin“ zu werden. „Niemand will das, weil die meisten gar nicht wissen, was das ist. Selbst die aus der Branche nicht“, lacht sie und atmet hörbar Zigarettenrauch aus. Dabei kann die Bedeutung des Filmschnitts für den fertigen Film kaum überschätzt werden. Anders als viele vermuten, gibt die Regie nicht vor, an welcher Stelle geschnitten wird. Filmeditor*innen sichten das gesamte gedrehte Material, wählen die besten Einstellungen aus und setzen alles zu einer verständlichen Narration zusammen, bei der Spannung entsteht und das Timing von Pointen sitzen muss. 1950 wird Koller in eine filmaffine Familie in Wien…

Erschienen in: an.schläge VII/2021 (Print). Hier geht’s zum vollständigen Artikel.

Bin ich verhaftet? (Rezension „Gott existiert, ihr Name ist Petrunya“)

Eine toughe Heldin kämpft gegen die Dreifaltigkeit des Patriarchats aus Kirche, Staat und Gesellschaft.

Petrunya ist Anfang 30, arbeitslose Historikerin und wohnt bei ihren Eltern. Nach einem miesen Vorstellungsgespräch gerät sie in ein orthodoxes Ritual, bei dem die Männer des Dorfes alljährlich am Dreikönigstag in einen eiskalten Fluss springen. Sie wollen ein Glück verheißendes Holzkreuz ergattern, das der Priester zuvor hinein geschmissen hat. Petrunya wirft sich einem Impuls folgend ebenfalls in die Fluten, schnappt das Kreuz und flieht damit klatschnass vor Priester und perplexer Meute. Zuhause angekommen, wird sie von ihrer streng gläubigen Mutter verpfiffen, die Polizei nimmt sie mit, um auf dem hiesigen Polizeirevier den vermeintlichen Skandal zu klären….

Der Text ist erschienen in Print: Missy Magazine 06/19 und online unter: www.missy-magazine.de

Schauen Sie genau hin!

Christopher Nolan (* 30.7. 1970) und sein Einfluss auf das Kino

„Are re you watching closely?“ – mit dieser an die Zuschauer*innen gerichteten Frage endet Christopher Nolans Prestige – Die Meister der Magie (2006). Es geht um zwei rivalisierende Magier im ausgehenden 19. Jahrhundert, die einander ein Leben lang übertrumpfen und die Tricks des anderen entlarven wollen, bis beide daran zugrunde gehen und alles verlieren. Zahlreiche falsche Fährten führen sowohl die Zauberer als auch das Publikum mehrfach in die Irre. Der Rat, ganz genau hinzusehen, empfiehlt sich aber für alle von Nolans Filmen, der selbst einer der großen Kinomagier des zeitgenössischen Films ist.

Christopher Nolan wird am 3. Juli 1970 als Sohn einer US-Amerikanerin und eines Briten in London geboren. Schon früh experimentiert er mit der Super-8-Kamera seines Vaters, ab 1977 verengt sich sein kindliches Sujet auf das Weltall. Grund ist mit Star Wars das erste prägende Kinoereignis, an das er sich erinnert. Als Nolan 12 Jahre alt ist, reift in ihm die Idee, Regisseur zu werden. Er bewundert Alien (1979) ebenso wie Blade Runner (1982) und erkennt, dass die Handschrift von Regisseur Ridley Scott auch in zwei so unterschiedlichen Filmen erkennbar ist. Seine Eltern unterstützen ihn in seinem Wunsch – auch als er die teure Super-8-Kamera kaputt macht. Wie konkret und realistisch seine Einschätzung des Filmemachens ist, zeigt sich in der frühen Erkenntnis: Niemand gibt einem unbekannten Filmemacher ein fertiges Drehbuch. Fortan verfasst er selbst Drehbücher, um eigene Geschichten in petto zu haben. Er findet Gefallen daran, ebenso wie sein jüngerer Bruder Jonathan, mit dem er bis heute an fünf Filmen zusammengearbeitet hat.

Ende der 1980er beginnt Christopher Nolan ein Studium der Englischen Literatur am University College in London (UCL), vor allem wegen des Zugangs zum filmischen Equipment. Er wird Mitglied, dann Präsident des studentischen Filmclubs und lernt seine spätere Frau Emma Thomas kennen. Sie produziert bis heute alle seine Filme, mit ihr gründet er die Produktionsfirma „Synkopie“ und das Paar bekommt vier Kinder. Der Filmclub zeigt 35mm-Filme während des Semesters, in den Ferien kann Nolan die 16mm-Kamera des Clubs für eigene Projekte nutzen.

Nach seinem Bachelor-Abschluss arbeitet Nolan als Skriptreader, Kameraoperateur und Regisseur für Unternehmens- und Industriefilme, bevor 1998 sein mit minimalem Budget realisiertes Spielfilm-Debüt Following erscheint, für das er auch als Drehbuchautor verantwortlich zeichnet. Der schwarzweiße Neo-Noir-Thriller mit unerwartetem Ende beinhaltet schon alle Nolan-typischen Zutaten. Dazu gehört auch die da noch dezent, später labyrinthisch verschachtelte Narration, die er mit Memento (2000) weiter ausbaut. Basierend auf einer Kurzgeschichte und dem Drehbuch seines Bruders erscheint Memento in der Hochphase des Mindfuck-Kinos. Gekennzeichnet durch eine unzuverlässige Erzählweise führen um die Jahrtausendwende Filme wie Die üblichen Verdächtigen (R: Bryan Singer, 1995), The Sixth Sense (R: M. Night Shyamalan, 1999) oder Fight Club (R: David Fincher, 1999) ihr Publikum konsequent und raffiniert in die Irre und warten im Finale mit einem unvorhersehbaren Plottwist auf. Auch am Ende von Memento steht ein Twist, aber die verschachtelte und rückwärts erzählte Geschichte ist die eigentliche Attraktion.

Memento markiert auch die erste Zusammenarbeit mit Nolans langjährigem Kameramann Wally Pfister. Der Dreh an Originalschauplätzen und in urbanen Settings statt in kulissenhaften Studiobauten sowie der möglichst geringe Einsatz von visuellen Spezialeffekten wird zu einem weiteren Markenzeichen Nolans. CGI dient bei ihm nie dazu, Geschichten zu überdecken. Digitale Special Effects nutzt er nur, um die praktischen, „handgemachten“ Effekte aufzuwerten. Filmsprachliche, formale Spielereien sucht man in seinen Werken ebenfalls vergeblich. Die Form dient dazu, Betrachter*innen in die Handlung einzunähen. Dokumentarisch sind seine Filme jedoch nicht, da der Realismus der Diegese durch den geschickten Einsatz von Musik oder Montage oftmals bewusst in Zweifel gezogen wird.

Nach Memento folgt mit der US-Adaption des norwegischen Thrillers Insomnia (2002) eine Auftragsarbeit, mit der Nolan beweist, dass er auch ein größeres Budget händeln kann. Erst dadurch wird sein Engagement bei Batman Begins (2005) denkbar. Es wird ein Erfolg bei Kritik und Publikum. Wo Sam Raimis Spider-Man (2002) die Genese von Peter Parker zum Spinnenmann als selbstironische Coming-of-Age-Geschichte erzählt, wischt Nolans Batman Begins „the smile off the face of Superhero movies“, wie Kyle Smith damals in der New York Post bemerkt. Nolan belebt mit Batman Begins nicht nur die Reihe um DCs düsteren Heroen wieder, er haucht dem ganzen Superheldengenre neues Leben ein, eine Vielzahl anderer Reboots folgt. Auch sein eigenes Sequel The Dark Knight (2008) wird mit Heath Ledger als legendärem Joker ein Erfolg. Hierfür dreht er vier Sequenzen, darunter die Auftaktszene des Bankraubs, im 70mm-IMAX-Format. So sparsam Nolan mit CGI umgeht, so sehr bevorzugt er teures, analoges Filmmaterial. Auch über seine eigenen Filme hinaus. Als Mitglied der gemeinnützigen Organisation „The Film Foundation“ engagiert er sich für die Bewahrung und Archivierung analoger Filme.

Bevor Nolan die Batman-Trilogie mit The Dark Knight Rises (2012) beendet, etabliert er mit Inception (2010) endgültig seine Stellung als einziger Auteur Hollywoods. Er schreibt das Drehbuch selbst, verzichtet wie bei den Batman-Filmen auf ein zweites Kamerateam bei Action-Sequenzen, wie sonst für Filme dieser Größenordnung üblich. Wieder setzt er auf Originalschauplätze und dreht in sechs Ländern, darunter in Tokio, Kanada oder Marokko. Leonardo DiCaprio gibt in dem Science-Fiction-Heist-Film den Dieb Dom Cobb, der die Träume anderer Menschen infiltriert, um Informationen zu stehlen. In einem letzten, entscheidenden Coup dringt er in immer tiefere Schichten der menschlichen Psyche vor und landet, gejagt von den eigenen Dämonen, schließlich im unentrinnbaren Limbo des Unterbewusstseins. Oder doch nicht?

Was hier Realität, was Illusion oder Traumwelt ist, lässt Nolan bewusst offen. Nach zweieinhalb Stunden faszinierender Beugung physikalischer Gesetzmäßigkeiten und waghalsiger Verfolgungsjagden durch die Gehirnwindungen ist das Popcorn alle und der Mund steht offen. Der Ariadnefaden reißt ab und der Regisseur lässt sein Publikum mit der eigenen Interpretation zurück, zwingt uns dazu, unser eigenes Verhältnis zur Realität zu reflektieren. Es gibt keinen anderen Blockbuster, der ein Mainstreampublikum mit einem derart hohen künstlerischen und intellektuellen Anspruch konfrontiert. Da stören auch die vielen Parodien der „Traum im Traum im Traum“-Struktur, beispielsweise in einer Episode der Simpsons, nicht.

2014 taucht Nolan mit Interstellar in extraterrestrische Sphären und arbeitet erstmals mit dem niederländischen Kameramann Hoyte van Hoytema zusammen. In einer dystopischen Zukunft steht die Erde vor dem Kollaps und drei Astronaut*innen machen sich auf eine ungewisse Reise durch ein Wurmloch, um neue Refugien für die dem Aussterben nahe Menschheit zu finden. Nolans Narration wechselt dabei nicht nur elegant die zeitlichen Ebenen, die Grenzen der Physik, von Zeit und Raum werden hier gleich ganz gesprengt. Der Regisseur lässt sich dafür von dem theoretischen Physiker Kip Thorne beraten, der ihm wiederum attestiert, wie ein Mathematiker zu denken. Tatsächlich fertigt Nolan stets akribisch Diagramme an, um bei seinen Erzählstrukturen den Überblick zu behalten. Interstellar ist nicht nur unter den zehn erfolgreichsten Filmen 2014, er ist auch als einziger in dieser Top Ten kein Remake, kein Sequel, kein Reboot und keine Adaption.

Danach kehrt Nolan in irdische Gefilde und in die Zeitgeschichte zurück. Der Kriegsfilm Dunkirk (2017) basiert auf den realen Ereignissen der „Operation Dynamo“ im Zweiten Weltkrieg, bei der 1940 britische Soldaten über den Ärmelkanal evakuiert wurden. Mit drei unterschiedlichen Erzählperspektiven ist er für Nolans Verhältnisse fast schon konventionell erzählt. Es ist der erste Film, für den er eine Oscar-Nominierung in der Kategorie Beste Regie erhält, nachdem er schon 2012 als jüngster Regisseur der Geschichte seine Hand- und Schuhabdrücke im Zement vor dem Grauman‘s Chinese Theatre verewigen durfte.

Der Text ist zuerst erschienen in: Bothmann, Nils (Hrsg.): Schüren Filmkalender 2020, Schüren Verlag 2019 & online hier: www.filmgeblaetter.schueren-verlag.de

Gesetz der Straße (Rezension „Beale Street“)

Filmkritik: „Beale Street“ verwebt Liebesgeschichte und Justizdrama zu anspruchsvollem Black Cinema.

Die titelgebende Beale Street aus James Baldwins Roman „If Beale Street Could Talk“ von 1973 befindet sich eigentlich in New Orleans. Sie steht aber exemplarisch für jede der Schwarz geprägten Nachbarschaften in den USA und ihr soziokulturelles Gefüge, das Baldwin selbst als eine Art Vermächtnis der Schwarzen Community bezeichnet. Barry Jenkins’ Filmadaption greift diese Doppeldeutigkeit ebenfalls auf. Denn einerseits geht es in „Beale Street“ um Alltagsrassismus und die bis heute fortdauernde strukturelle Diskriminierung von Schwarzen Menschen in einem weiß dominierten Justizsystem. Andererseits erzählt der Film die berührende Liebesgeschichte von Tish (Newcomerin Kiki Layne) und Fonny (Stephan James).

Fonny und Tish. Diese beginnt mit einer gemeinsamen Kindheit, in der eine Freundschaft entsteht, die später zu Liebe wird. Jenkins inszeniert diese behutsame Annäherung und erste Phase des Verliebtseins mit langen, ruhigen Einstellungen in den satten Farben des New Yorker Sommers und Herbstes, gedreht an Originalschauplätzen in Harlem. Diese Episoden werden uns aus Tishs Perspektive in Rückblenden erzählt, begleitet von ihrem poetischen bis lakonischen Off-Kommentar. Das Glück ist aber nicht von Dauer: Fonny wird wegen einer brutalen Vergewaltigung verhaftet, die er nicht begangen haben kann. Zur Tatzeit ist er mit Tish und einem alten Freund zusammen am anderen Ende der Stadt. Doch es wiederholt sich ein uraltes Motiv: Das Alibi der eigenen Partnerin und des vorbestraften Freundes zählen auch in den USA der 1970er-Jahre nichts, wenn ein Schwarzer Mann von einem weißen Polizisten belastet wird. Fonny bleibt in U-Haft, während Tish, ihre Familie und Fonnys Vater versuchen, seine Unschuld doch noch zu beweisen.

Mit dem Bauch wächst der Kampfgeist. Zwischen den erwähnten Rückblenden kehrt die Handlung immer wieder in die Gegenwart zurück, markiert durch Tishs Besuche im Gefängnis. Eine Orientierung in den verschiedenen Zeit- und Erzählebenen bietet außerdem Tishs fortschreitende Schwangerschaft, von der sie kurz nach Fonnys Verhaftung erfährt. Parallel zum Bauch wächst auch ihr Kampfgeist, und während Fonny im Gefängnis zur Passivität verdammt verzweifelt, entwickelt sie sich auf der anderen Seite der Glasscheibe von einem naiven Mädchen zu einer souveränen und entschlossenen Frau. Die meisten weiblichen Figuren in „Beale Street“ werden ähnlich stark und selbstbewusst gezeichnet. Tishs resolute Mutter (Regina King erhielt für ihre Rolle eine Oscar-Nominierung) reist allein bis nach Puerto Rico, um den Schwiegersohn zu entlasten, die ältere Schwester ermutigt sie, sich nicht für ein uneheliches Kind zu schämen. Auch Tishs Vater erkundigt sich zuerst danach, ob seine Tochter das Kind bekommen will, und ergänzt sofort: „Denk nicht, du seist ein böses Mädchen! Ich frage nur, weil du so jung bist.“ Jenkins schildert diesen familiären Zusammenhalt eindrücklich, getragen von starken Frauen und einem Vater, der Stolz auf diese Stärke ist. Nicht religiöse oder gesellschaftliche Konventionen bestimmen hier die Regeln, Solidarität ist das oberste Gebot. Erfreulich realistisch ist zudem, dass die Schwangerschaft nicht verklärt dargestellt wird. Hier tritt der Fötus die werdende Mutter auch mal so heftig, dass ihr die Kaffeetasse aus der Hand fällt.

Präzise sezierter Rassismus. Wer am Ende Gerechtigkeit erwartet, wird von „Beale Street“ enttäuscht. Die eigentliche Tragik liegt aber darin, dass sich an dem von James Baldwin schon vor mehr als vierzig Jahren so präzise dargestellten Rassismus bis heute nur so wenig geändert hat. Nicht nur eine Beale Street mit all ihrer lebendigen Dynamik und Problemen gibt es  überall in den USA. Auch Ferguson oder Baltimore stehen exemplarisch für die schlimmsten Ungerechtigkeiten, die Schwarzen Menschen noch heute an zu vielen Orten widerfahren. Barry Jenkins gelingt dieser Tragik zum Trotz eine wunderschön fotografierte und narrativ anspruchsvoll verschachtelte Geschichte, die thematisch über sich selbst hinausweist. Empowernd ist das nicht, aber ein berührendes und meisterhaftes Werk des Black Cinema.

Erschienen in: an. schläge 2019, an.sehen, II / 2019 (Print)
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