Marx und Minirock – Mina Ahadi in Bochum

Ein Kuschelkurs in Sachen Islam wird das hier nicht. Auf die Frage, ob ich fotografieren könne, erwidert Uwe Vorberg vom Bahnhof Langendreer, er müsse erst die beiden Personenschützer von Mina Ahadi informieren, damit es keine Probleme gibt. Als er in den Abend zum Thema „Frauenrechte und Islam“ einführt, bemerkt er angesichts des vollen Studios 108 trocken „Es scheint ein brennendes Thema zu sein“.

Um die 150 Menschen sind der Einladung des Bahnhof Langendreer und der Initiative Religionsfrei im Revier gefolgt, um die Exil-Iranerin und Menschenrechtsaktivistin sprechen zu hören. Sie sitzen auf dem Boden oder stehen hinter der letzten Stuhlreihe, bis zur Tür. Mina Ahadi ist Vorsitzende des 2007 gegründeten Zentralrats der Ex-Muslime, Begründerin eines Internationalen Komitees gegen Steinigung und eines gegen die Todesstrafe.

Ihre Biografie verleiht dem Gesagten besonderen Nachdruck. Sie erzählt, wie sie in einem iranischen Dorf aufwuchs und schon als Kind auf der Straße einen Tschador tragen musste, mit niemandem sprechen durfte, wenn sie von A nach B ging. Anders war es in der Großstadt Teheran, wo sie ihren atheistischen Großvater besuchte. Das Leben dort war voller Farben, Eis und Kinobesuche. In ihrem Dorf war es schwarz hinter dem Tschador, für Ahadi ein „mobiles Gefängnis“. Das war in den 1960er Jahren, noch unter Schah Mohammad Reza Pahlavi.

Ihr Körper wird mit der Pubertät zunehmend zu einem Problem. Das Einsetzen der Periode sei „ein schwarzer Tag für die Familie“ gewesen. Sie beginnt, die Religion und ihren Platz darin zu hinterfragen. Will einen Freund haben, den Tschador ablegen. Die Antwort auf alles lautet immer nur „Allah“. Sie hört auf zu beten, entwöhnt sich von den religiösen Riten. „Dafür wurde ich nicht gesteinigt. Im Dorf galt das als typische Phase von jungen Leuten“.

Später geht Ahadi zum Medizinstudium nach Täbris. Dort kann sie sich unbedeckt bewegen. Verboten bleibt die Lektüre von Marx und anderen kommunistischen Autoren. „Ich wollte aber Minirock tragen und Marx lesen“, stellt Ahadi energisch fest. Sie beteiligt sich als Teil der linken Bewegung an Demonstrationen gegen den Schah und muss ihr Studium abbrechen. Als Oppositionelle kämpft sie nach der sogenannten Islamischen Revolution 1979 gegen den religiösen Fundamentalismus Khomeinis.

Persönliches Schicksal

Wie oft mag Ahadi den nun folgenden Teil ihrer Geschichte erzählt haben? Ihre Stimme bricht kurz, um dann noch lauter, durchdringender zu werden. 1980 wird ihr Mann, während sie nicht zuhause ist, verhaftet, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Ahadi ist da 24 Jahre alt, lebt noch eine Weile unter ständiger Angst in Teheran, flieht in den Westen des Landes, wo sie zehn Jahre lang als Partisanin kämpft.

Die Preisgabe ihres bewegenden Schicksals steht in Kontrast zu der harten Linie, die sie gegenüber Religionen insgesamt und dem Islam vertritt. Ihre Thesen sind so klar wie unversöhnlich: Frauenrechte sind mit Religionen unvereinbar. Die Scharia ist unmenschlich und ein Instrument für Zwangsheirat, Geschlechter-Apartheit und Ehrenmord. Der Zwang zu Hijab, Niqab, Tschador und Burka ist eine Menschenrechtsverletzung, ein Symbol für den politischen Islam und gehört in westlichen Ländern verboten. „Ich klage alle Religionen an die sagen, der Körper sei etwas Schmutziges“. Sie hofft dabei nicht auf die Unterstützung durch die Politik: „Parlamente und Regierungen sind kalt, aber jeder einzelne Mensch hat ein Herz“.

Das Publikum hat Ahadi auf ihrer Seite. Menschen, die aufgrund ihres Äußeren irgendeiner Religion zuzuordnen wären, sind nicht gekommen. In der anschließenden Diskussion gibt es dennoch Gegenstimmen. Eine Frau, die angibt, christlich sozialisiert und nun Atheistin zu sein, widerspricht Ahadis Forderung nach einem Kopftuch- und Moscheeneubau-Verbot. Sie argumentiert mit der Religionsfreiheit: wenn es Kirchen gibt, warum nicht auch Moscheen?

Ahadi widerspricht, es gäbe erstens genug Moscheen, ihr ginge es aber besonders um Prunkbauten wie die Ehrenfelder Moschee in Köln, die „größer als der Dom“ werden sollte und somit auch einen Machtanspruch des politischen Islam ausdrücke.

Auf die Burka-/Burkini-Verbots-Debatte will sie sich nicht einlassen, das sei ein anderes Thema. Für sie gibt es nur einen geringen Prozentsatz an Frauen, die sich freiwillig verhüllen. Bei der Mehrheit sei es ein Zwang, auch unbewusst durch die religiöse Indoktrinierung vermittelt. „Eine Burka in Europa zu tragen, soll das ein Menschenrecht sein?“.

So manche gläubige Muslima würde Ahadi da widersprechen, sich nicht als indoktriniert bezeichnen. Doch was würde ein Dialog bringen, wenn das religiöse Korsett von den Betroffenen nicht als solches empfunden wird? Ahadi fordert Frauen aktiv auf, den Schleier abzunehmen. Aber ist ihr unglaublicher und teuer bezahlter Mut ein Weg, den jede Frau gehen will und kann?

Harte Thesen ohne Hass

Von der AfD distanziert sich Ahadi scharf. Eine Einladung von Frauke Petry lehnte sie mit der Begründung ab, deren Partei vertrete wie ultrakonservative Islamverbände eine autoritäre, homophobe, sexistische, kurz: menschenfeindliche Position.

Der Konflikt zwischen ihrer Position und der von vielen linkspolitisch orientierten Menschen wird hier trotzdem deutlich. Sie hält den Umgang von Linken, Grünen und Intellektuellen mit dem Islam für zu sanft. Sie verharmlosten aus falsch verstandener Toleranz die Gefahren für eine freie Gesellschaft und sollten auch auf internationalem Parkett keine Zugeständnisse gegenüber Regimen wie dem iranischen machen. Aber welche Erfolge hat der Abbruch diplomatischer Beziehungen je erzielt?

Einige von Ahadis Thesen scheinen nur in der Theorie zu funktionieren. Würde unsere Gesellschaft wirklich freier, wenn wir den Kopftuchzwang in einen Enthüllungszwang umkehrten? Ein Strand in Nizza erscheint vor dem inneren Auge. Mich beschleicht das Gefühl, ob die Fragen, die ich mir stelle, nun besonders tolerant und weltoffen, oder jene „linken Reflexe“ sind, die Ahadi kritisiert.

Ein junger Mann möchte mit Ahadi dann noch über die Auslegung des Korans und der Scharia diskutieren. „Wenn man keine Todesstrafe fürchten muss, keine Morddrohungen erhält, dann kann man über die Interpretation diskutieren“, entgegnet Ahadi. Ein älterer Mann, der sich mir später als Kourosh vorstellt und als Kernphysiker in der Anti-Atom-Bewegung aktiv war, findet noch treffendere Worte: „Ob der Koran nun gut ist oder schlecht, wie man ihn auslegt, das ist nicht mein Bier! Menschenrechte sind mein Bier, der Koran interessiert mich nicht und ich sollte auch nicht dazu gezwungen sein!“.

Von Mina Ahadi bleibt der Eindruck einer Frau mit glasklaren Überzeugungen und manchmal zu einfachen Antworten. Ihre Appelle sind trotzdem nicht destruktiv, ihre Forderungen kommen ohne Hass aus. Trotz allem, was ihr widerfahren ist, hat sie sich einen unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen bewahrt und scheint, ihre Mission gefunden zu haben. An diesem Abend wirft sie viele Fragen auf, auf die es keine leichten Antworten gibt. Allein die Möglichkeit einer so kontroversen Veranstaltung ist unserer freien, weitestgehend säkularen Gesellschaftsform geschuldet. Wenn Ahadi sagt, das sei ein Prinzip, das wir alle zusammen verteidigen müssen, will man ihr nicht widersprechen.

Zuerst erschienen auf: www.trailer-ruhr.de

Somebody’s gotta do the job: Sex wollen alle, Verhütung ist aber noch immer Frauensache

Hitzige Debatten werden um die Gleichberechtigung im Berufsleben geführt, wenn es z.B. um die Vereinbarkeit von Kindern und Karriere geht. Doch während die Väter hier stärker partizipieren sollen und wollen, scheinen die Herren der Schöpfung beim Thema Verhütung nur dabei, statt mittendrin zu sein. Blickt man auf die Geschichte der Verhütungsmethodik des letzten halben Jahrhunderts zurück, liest sich diese zunächst wie die Fabel eines weiblichen Befreiungsschlages: beginnend mit der Zulassung der Anti-Baby-Pille 1960, fortgesetzt durch die Fristenregelung des Abtreibungsgesetzes Mitte der 1970er und ergänzt um die rezeptfreie Zulassung der „Pille danach“ durch die EU-Kommission Anfang 2015. Diese medizinischen Innovationen und gesetzlichen Liberalisierungen verschaffen Frauen mehr Souveränität über ihren Uterus, sind sinnvoll und fortschrittlich. Frauen haben aber nicht nur die Kontrolle, sondern tragen auch die Pflicht zur Verhütung meist allein, gerade in festen Beziehungen.

Laut einer Online-Umfrage der Zeitschrift Men’s Health 2014 wollen zwar 30 % der befragten Männer die Verhütung nicht der Frau allein überlassen, für mehr als die Hälfte (55 %) ist aber die Pille das Mittel „ihrer“ Wahl. Auch eine Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zum Verhütungsverhalten, die 2011 unter sexuell Aktiven zwischen 18 und 49 Jahren durchgeführt wurde, spricht dafür. Mehr als die Hälfte der Befragten beiderlei Geschlechts gaben die Anti-Baby-Pille als favorisiertes Verhütungsmittel an. Der männliche Wunsch nach Eigenverantwortung scheint vorhanden, besteht aber hauptsächlich darin, dass frau die Pille nehmen möge. Zu der subjektiv empfundenen Ungerechtigkeit kommen bei immer mehr Frauen medizinische Bedenken. Die hormonelle Verhütung greift aggressiv in den natürlichen Zyklus ein, kann starke Nebenwirkungen verursachen und über ein erhöhtes Krebsrisiko in Verbindung mit der Pille streitet die Medizin seit Jahren. In stark frequentierten Foren wie dem des Online-Frauenmagazins gofeminin häufen sich zudem Einträge zur Unverträglichkeit der Pille und der Wunsch nach natürlichen Alternativen nimmt zu. Biotrendwende und Hormoncocktail passen eben schlecht zusammen.

Doch was könnten Männer tun? Aktiv bleibt ihnen tatsächlich nur das Kondom oder die unumkehrbare Sterilisation, wollen sie nicht allein in das verantwortungsvolle Verhütungsverhalten der Frau vertrauen. Vorerst wird sich daran auch nichts ändern, das WHO-Forschungsprojekt für die Spritze für den Mann wurde bereits 2011 eingestellt. Die Gleichberechtigung ist, was Verhütung betrifft, noch am Anfang. Hier sollte die Medizin neue Wege finden – oder zumindest danach suchen. Bis dahin muss die Mehrheit der Männer vermutlich zunehmend mit Kondomen leben (lernen), denn sonst bleibt ihnen künftig vielleicht nur das einzige, 100% sichere Verhütungsmittel: die Enthaltsamkeit.

Zuerst erschienen unter: www.choices.de

Sex and the City in Accra: Die Webserie „An African City“

Sadé, Ngozi and Zainab, drei der fünf Protagonistinnen der 2014 gestarteten Webserie „An African City“, sitzen im Restaurant. Ngozi, gläubige Christin und Nesthäkchen der Gruppe, hat ein Blind Date mit drei Männern arrangiert. Der lahm laufende Small Talk kommt auf das Berufliche. Geschäftsfrau Zainab erzählt von einer Präsentation, bei der es auch um den Gebrauch von Kondomen ging. Die Männer sind überrascht: „Why you use condoms? You look clean?“…

Zum vollständigen Text unter: www.missy-magazine.de

Diskussion zu „Rassismus und Sexismus: Intervention“ in Bochum

Seit den Vorfällen, die sich in der Silvesternacht 2015 in Köln ereigneten, ist „nach Köln“ zu einer Chiffre geworden. Wer über sexualisierte Gewalt, Frauenrechte oder allgemein über Feminismus spricht, wird früher oder später mit ihr konfrontiert. Die große Aufmerksamkeit galt und gilt aber nicht den Opfern oder dem Missstand sexualisierter Gewalt an sich. Das mediale Interesse verbiss sich früh in die Herkunft der Täter, Islamkritik und die Angst vor dem „nordafrikanisch aussehenden Mann“. „Besorgte Bürger“, PEGIDA-Anhänger und die AfD, „vor Köln“ nicht gerade für ein modernes Frauenbild bekannt, schrieben sich begeistert Frauenrechte auf die schwarz-rot-goldene Flagge.

Die Zuspitzung der öffentlichen Debatte, die bis heute mit rassistischen Vorurteilen und Diskriminierungen geführt wird, war laut Laura Chlebos von der Initiative Feminismus im Pott der Anlass für die Veranstaltung „Rassismus und Sexismus: Intervention“, organisiert gemeinsam mit der medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum und dem Bahnhof Langendreer.

Ergänzt wird das Podium durch Menschen, die die persönliche Erfahrung von Mehrfachdiskriminierung – etwa als Flüchtlingsfrau, Woman of Color oder Muslimin – gemacht haben. Neben Madeleine Mwamba von „Women in Exile & Friends“ ist Antonia Schui, die sich seit fünf Jahren als solidarische Aktivistin ohne Fluchthintergrund bei den Friends engagiert, eingeladen. Erweitert wird die Runde um Emine Aslan und Hengameh Yaghoobifarah, beide Mitverfasserinnen des Aufrufs #ausnahmslos, der noch im Januar 2016 mit dem Anspruch „Gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus. Immer. Überall.“ veröffentlicht wurde.

Die Instrumentalisierung von sexualisierter Gewalt zur Bestätigung rassistischer Vorurteile einerseits und die kaum thematisierten Übergriffe auf Flüchtlingsfrauen, Women of Color oder Musliminnen andererseits sollen im Kontext der Kölner Debatten diskutiert werden.

Bianca Schmolze von der medizinischen Flüchtlingshilfe, die u.a. psychotherapeutische Hilfe für Flüchtlinge und Folteropfer anbietet, eröffnet die Diskussion schon in der Vorstellungsrunde mit klaren Worten. „Seit der Silvesterdebatte ist uns die Galle hochgekommen. Dass das Asylrecht verschärft worden ist, finden wir eklig“, bezieht sie klar Stellung.

Wut und leidenschaftlicher Wille zu gesellschaftlicher Veränderung sind auch Madeleine Mwamba anzumerken. Die ursprünglich aus Kamerun stammende Aktivistin stellt mithilfe einer Dolmetscherin die Arbeit von Women in Exile dar. Seit 2002 besuchen die Aktivistinnen Flüchtlingsheime und dokumentieren dortige Missstände. Mangelnde Privatsphäre selbst in den sanitären Anlagen oder sexuelle Übergriffe gehören zum Alltag der in den Heimen untergebrachten Frauen.

Berichtet wird darüber kaum, eine breite Empörung wie angesichts der Übergriffe an Silvester scheint gar undenkbar. Die sexuellen Übergriffe, die Flüchtlingsfrauen aus einem Heim in Köln Gremberg im Februar öffentlich gemacht hatten, sind wieder in Vergessenheit geraten. Erkennbare Konsequenzen für die Täter gab es nicht, dafür wurde die Ehrlichkeit der Opfer umso mehr in Frage gestellt.

„Ein öffentlicher Brief, den wir sehr vielen Medien zugespielt haben, wurde meines Wissens nach nirgendwo veröffentlicht“, stellt Antonia Schui resigniert fest. Für Madeleine Mwamba lautet das Ziel von Women in Exile daher nach wie vor: „Keine Lager für Frauen und Kinder! Alle Lager abschaffen! Hört auf, Diskriminierung und Rassismus mit Frauenrechten zu legitimieren.“

Selber Sturm, anderes Boot

Zu einer anderen Gruppe, die sich mit Mehrfachdiskriminierung auskennt, gehört die Aktivistin Emine Aslan, Muslimin ohne Fluchthintergrund. Mit #SchauHin, einer Plattform, die Alltagsrassismus sichtbar machen will und anderen Projekten unterstützt sie junge Muslime und Musliminnen dabei, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Frauen, die einer Ethnie oder Religion angehören, die in Deutschland eine Minderheit ist, sind anders von Rassismus und Sexismus betroffen. „Wir sind im selben Sturm, aber in unterschiedlichen Booten“, veranschaulicht Aslan. „Wir schauen nur hin, wenn ‚weiße‘ Frauen belästigt werden und stellen gleichzeitig die muslimische Community unter Generalverdacht. Die Stimmung wird – auch nach den Terroranschlägen in Paris und Brüssel – ängstlicher. Die Menschen sehen dann auch mich als Teil eines Phantasiekollektivs. Das ist ein Klima, in dem Rassismen legitimer werden.“

Auch abseits von Belästigung oder Gewalterfahrungen erleben muslimische Frauen Sexismus anders. „Ihr beschäftigt euch mit dem Gender Gap beim Gehalt, ich frage mich, ob ich mit meinem Kopftuch überhaupt einen Job bekommen werde“.

Sexualisierte Gewalt an Frauen vor „Köln“

Hengameh Yaghoobifarah, Bloggerin und freie Journalistin u.a. für das Missy Magazine, erweitert die Runde noch um eine weitere Gruppe: alle Frauen, die auch schon vor Köln die Erfahrung sexualisierter Gewalt gemacht haben. „Es ist ja nicht so, als wären wir nicht schon früher mit ungutem Gefühl durch die Straßen gelaufen. Die Bedrohung oder das Gefühl der Angst gab es für Frauen auch davor schon.“

Dass es sich dabei nicht nur um ein Gefühl handelt, bestätigt die Statistik. Laut einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“, die sich auf die erste repräsentative Umfrage zum Thema aus dem Jahr 2003 bezieht, sind Formen sexualisierter Gewalt in Deutschland schon lange weit verbreitet.

13 % der in Deutschland lebenden Frauen sind schon einmal Opfer sexueller Nötigung oder Vergewaltigung geworden, sexuelle Belästigung haben 58 % der Frauen erfahren. Die Umfrage fand nicht nur vor dem Höhepunkt der Migrationsbewegung statt. Die Täter waren mehrheitlich (Ex-)Beziehungspartner, Familienangehörige, Nachbarn oder Kollegen, nicht der „nordafrikanisch aussehende Mann“.

All diese Erfahrungen sind in die zahlreichen Interventionen „nach Köln“ eingeflossen. Aber was bewirken diese letztlich und wie könnte man die Verbindung von Sexismen und Rassismen besser sichtbar machen und bekämpfen?

Antonia Schui appelliert an die Gründung eigener Projekte, während Emine Aslan fordert, dass Aktivistinnen auch realpolitisch wirken sollen: „Wir brauchen professionelle Lobbyarbeit für Feminismus und Antirassismus“. Hengameh Yaghoobifarah rät dazu, das eigene Engagement zu reflektieren. „Ein Turnbeutel mit Refugees Welcome-Logo ist zwar schön, aber was habe ich konkret bewirkt? Geht auf Demos, macht was in politischen Gruppen.“

In der abschließenden Publikumsdiskussion wird die Frage an Emine Aslan gerichtet, was für eine Berichterstattung sie sich nach Köln gewünscht hätte. Sie erwiedert „Ich wünschte, wir hätten die Gelegenheit genutzt, eine Debatte zu führen, die allen Opfern sexualisierter Gewalt Gehör verschafft.“

Trotz des großen Interesses an diesem Abend bleibt der Eindruck, dass hier wieder nur die, die ohnehin einer Meinung sind, miteinander ins Gespräch kommen. Kristin Schwierz vom Bahnhof Langendreer bringt diese Resignation abschließend auf den Punkt: „Die Situation mag deprimierend sein. Aber es hilft ja nichts. Wir müssen gemeinsam weiterkämpfen.“ Für die Sicherheit von Frauen in Deutschland, egal welcher Herkunft, welcher Ethnie oder Religion sie angehören mögen.

Zuerst erschienen auf: www.trailer-ruhr.de

Rezension zu „Unsagbare Dinge“ (Laurie Penny)

Wer die aktuelle Debatte und die medialen Hass- und Liebeserklärungen zum aktuellen Stand des Feminismus verfolgt, muss erkennen: der Feminismus ist tot.
Die Frauenbewegungen verhalten sich in den letzten Jahren wie der Rest der zunehmend globalisierten Welt: heterogen, pluralistisch und manchmal auch widersprüchlich.

Da es den Feminismus als einheitliche Strömung nicht mehr gibt, wird nach neuen Modellen gefahndet. Die ZDF-Satiresendung „Die Anstalt“ widmete ihre Ausgabe vom 28.4.2015 einer durchaus selbstkritischen Reflextion des eigenen Umgangs mit Frauen(themen), die Nummer 17 der Wochenzeitung „Der Freitag“ unterstreicht mit dem Titelthema „Mir nach, Leute! Der Feminismus ist eine Erfolgsstory. Manche wollen das nicht begreifen“ die gesamtgesellschaftliche Bedeutung des Feminismus und auch choices lieferte im März mit dem Monatsthema FRAUENMENSCHEN eine Bestandsaufnahme.

In diese Richtung geht auch Laurie Penny mit ihrem Manifest „Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution“. Die noch nicht einmal 30-jährige Autorin, Bloggerin und Journalistin schreit uns auf knapp 280 Seiten ein wütendes Pamphlet entgegen, in dem sie persönliche Erfahrungen, politische Entwicklungen, akademisches Wissen und die daraus gezogenen Schlüsse zu größtenteils Polemik verdichtet.

Schon zu Beginn stellt die gebürtige Britin klar: „Dieses Buch hilft euch nicht dabei, einen Mann zu finden, eure Frisur zu richten oder euren Job zu behalten. Dieses Buch handelt von Liebe, Sex, Schönheit und Ekel, Macht, Leidenschaft und Technik.“ Ebenso schnell wird deutlich, dass sich Pennys Kritik nicht pauschal an die üblichen Verdächtigen wie die Medien, den Staat, die Pornoindustrie oder gar an die Männer richtet. Ihr Buch ist im klassischen Sinne kein feministisches Werk, denn Ziel ihrer stilistisch eigenwilligen und von revolutionärem Pathos durchwirkten Attacken ist nicht der Antifeminismus, sondern das kapitalistische System.

Anders als FEMEN oder Alice Schwarzer lehnt sie Prostitution oder Pornografie nicht kategorisch ab. Untypisch ist auch, dass sich Penny als Romantikerin sieht und ein ganzes Kapitel der Liebe und zwischenmenschlichen Beziehungsformen widmet. Als digital native liefert sie zudem ungewöhnliche Einblicke in den Komplex „Sexistische Gewalt im Internet“.

Die Männer oder die „verlorenen Jungs“, denen sie ebenfalls ein eigenes Kapitel zugesteht, definiert sie gleichsam als Verlierer einer paternalistischen Herrschaftsform, die alle Geschlechter unterdrückt. Die nur scheinbar über Frauen herrschenden Männer sind auch nicht die Urheber dieser Gesellschaftsordnung. Durch den ihnen zugestandenen Einfluss werden sie davon abgehalten, Machtverhältnisse, die auch sie selbst an ihrer Entfaltung hindern, kritisch zu hinterfragen. Gleiches gelte verstärkt für alle, die von der heterosexuellen cisgender-Norm abweichen.

Feminismus als Instrument

Dreh- und Angelpunkt ist aber auch für Penny das Frauenbild, das Instrument zur Umsetzung revolutionärer Visionen bleibt der Feminismus. Die großen Fortschritte, die FrauenrechtlerInnen auf dem Terrain von Recht und Selbstbestimmung in den letzten Jahrzehnten erwirkt haben, bewertet sie kritisch. Die Verheißung der Gleichberechtigung richte sich vornehmlich an die Karrierefrau, die sowohl ihr intellektuelles, als auch ihr erotisches Kapital fortwährend im Sinne des Neoliberalismus maximiert und nun alles sein und haben kann: 60-Stunden-Woche, Kinder, Haushalt, Beziehung und anschließendes Burnout.

Für Penny ist diese fortwährend schöne und erfolgreiche Frau „ausnahmslos weiß und fast völlig fiktional.“ Sie verlangt stattdessen eine Stimme für alle Frauen, die von diesem Ideal abweichen, denn generell gelte für Frauen noch immer „Wir haben Objekte des Verlangens zu sein, nicht verlangende Subjekte“. Sexismus ist ihrer Meinung nach immer dann präsent, wenn nur ein Geschlecht betroffen ist. Das zeigt sich ihrer Meinung nach auch bei den medialen Identifikationsangeboten. „Gute kleine Jungs sollen davon träumen, die Welt zu verändern. Gute kleine Mädchen sollen davon träumen, sich zu verändern“.

Mehr Phantasie bitte!

Anders als WELT-Autorin Ronja von Rönne, die Anfang April 2015 unter dem Titel „Warum mich der Feminismus anekelt“ perfekt vorführte, wie man als Wohlstandstöchterchen hedonistisch soziale Gerechtigkeit am eigenen, und nur am eigenen Erfahrungshorizont abmisst, ist sich Penny ihrer privilegierten Stellung durchaus bewusst. Ihr Anspruch ist kein geringerer, als eine bessere Welt für alle sozial Benachteiligten, wenn schon nicht zu schaffen, dann doch wenigstens gedanklich zu antizipieren.

Früher nannte man diese Denkweise übrigens Utopie oder in ihrer unpolitischen Variation die Phantasie von einer besseren Welt. Eine Qualität, an der es der EU-Politik zwischen Ukraine-Konflikt, IS-Terror und Griechenlandkrise – kurz angesichts der vielgestaltigen Anforderungen der Postmoderne – zu fehlen scheint.

Wer „Unsagbare Dinge“ zur Hand nimmt, darf weder eine stringente, noch eine ausnahmslos sachliche Argumentation, einfache Antworten oder klare Handlungsanweisungen erwarten. Der Stil schwankt zwischen poetisch-plakativen Zeilen wie „Der Neoliberalismus kolonialisiert unsere Träume“ und Statements wie „die ideale Frau ist fickbar. Fickt aber nie selber“, die beide im Gedächtnis bleiben.

Neben intimen, autobiografischen Einblicken spricht „Unsagbare Dinge“ gesellschaftliche Probleme aus, die all jene angehen, die sich eine gerechtere Gesellschaft für Frauen und Männer wünschen und das gegenwärtige System nicht als der Weisheit letzter Schluss und schon gar nicht als geeignet für die Anforderungen unserer Zeit empfinden. Am harten Realismus orientiert sich aber Pennys letzter Appell: Vor uns liegt ein langer Weg, der weh tun wird. Fangt an.

Laurie Penny: „Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution“ | aus dem Englischen von Anne Emmert | Edition Nautilus | 283 S. | 2015

Zuerst erschienen auf: www.choices.de