Aus sicherer Entfernung

Einleitung zur Essayreihe „Distanzmontage“ im Auftrag der Duisburger Filmwoche 2023

Kollektives Filmerleben wird in Duisburg seit fast 50 Jahren durch anschließende Gespräche in den öffentlichen Raum des Diskussionssaals verlängert, die dort ausgetauschten Seherfahrungen und Gespräche in den Protokollen festgehalten. Die gezeigten Filme wirken so in mehrfacher Hinsicht nach. Seit 2020 ist das Protokoll-Archiv virtuell zugänglich und um einen Blog mit weiteren Texten zum Dokumentarfilm ergänzt worden. Für die aktuelle Textreihe haben wir 2023 Journalistinnen, Wissenschaftlerinnen, Filmemacher und -vermittlerinnen eingeladen, dort in der Festivalhistorie nach verbindenden Elementen zu suchen: Zwischen den in Duisburg gezeigten Filmen und den in ihnen und im Anschluss an sie verhandelten Diskursen. Ihre Ausgangspunkte sind – neben den Filmen der 46. Duisburger Filmwoche 2022 – ausführliche Recherchen in unserem Protokoll-Archiv. Ihre Texte erscheinen hier unter dem Titel Distanzmontage.

Der Begriff Distanzmontage geht auf den armenischen Dokumentarfilmregisseur Artavazd Peleschjan zurück. Ihre Besonderheit liegt darin, „daß eine Montageverbindung über Abstände hinweg nicht nur Einzelelemente als solche […] verknüpft, sondern auch […] ganze Elementkomplexe wobei es zu einer Wechselwirkung zwischen einem Prozeß mit einem anderen, ihm kontroversen Prozeß kommt. Dies nenne ich das Blockprinzip der Distanzmontage.“1 Peleschjan geht davon aus, so die Wahrnehmung für das filmische Erleben zu intensivieren. Mit jeder neu hinzukommenden Einstellung soll das zuvor Gesehene neu bewertet, definiert und reflektiert werden. Fast so, als würden wir einen Film mit jeder Szene erneut rekapitulieren und am Ende nochmals rückwärts lesen.

Um eine gedankliche Einkreisung, die im Rückblick bisher Unverbundenes zueinander in Bezug setzt, bemühen sich auch die hier versammelten Texte. Wie bei der Distanzmontage ergibt sich durch die rückwärtige Lektüre eine neue Sicht auf die Filme, aber auch auf Fragen und Diskurse, die darüber hinausweisen.

Michelle Koch denkt über Spannungs- und Machtverhältnisse innerhalb der Konstellation Protagonist:in – Regie – Publikum nach und fragt, wer hier eigentlich das Wort hat. Marion Biet beschreibt, wie sich das Verhältnis von Untertiteln mit und im Bild in den letzten Jahrzehnten verändert hat und streift ebenfalls Fragen der Übersetzung zwischen kulturellem Transfer und bewusster Auslassung. Petra Palmer widmet sich den sozialen Räumen, die Dokumentarfilme abbilden, (re)konstruieren und antizipieren – ästhetisch oder in utopischen Konzepten – und wie sich Menschen darin situieren oder diese subversiv unterlaufen. Ausgehend von der ersten gemeinsamen Konferenz mit unserem Partnerfestival doxs! dokumentarfilme für kinder und jugendliche überlegt Mirjam Baumert, wie Dokumentarfilmen und Kurator:innen ein intergenerationeller Dialog gelingen kann. Oliver Schwabe wendet sich Filmen zu, die das Fernsehen historisieren, untersucht die Mitwirkung des Mediums an meinungsbildenden Prozessen und schildert seine persönlichen Erfahrungen im Umgang mit TV-Archivmaterial. Fiona Berg schließlich betrachtet, wie Natur als Resonanzraum für die teils romantisierten Sehnsüchte der urbanisierten Gesellschaften inszeniert und vereinnahmt wird, statt sie in ihrem Wert an sich und in ihrer verletzlichen Vergänglichkeit filmisch zu respektieren und zu bewahren.

Die Texte selbst laden dazu ein, die Programmhistorie der Duisburger Filmwoche noch einmal zu rekapitulieren und dabei neue Standpunkte, Diskurse oder schlicht noch ungesehene Dokumentarfilme zu entdecken.

1 Zitiert nach: Norbert M. Schmitz: „Distanzmontage als modernes Kunstprinzip. Artavazd Peleschjans Theorie und Praxis der Montage“ in: montage AV 20/1/2011.

Die Texte der Essayreihe erscheinen sukzessive auf dem Blog der Duisburger Filmwoche und können hier online abgerufen werden.
Als verantwortliche Redakteurin habe ich gemeinsam mit den Verantwortlichen der Filmwoche Themen erarbeitet, Autor*innen gesucht und die Veröffentlichung der Texte betreut.

Nicht verRecken

Protokoll zu Filmscreening & Diskussion im Rahmen der 45. Duisburger Filmwoche

Eine alte Frau blickt in die Kamera, zögert kurz und sagt dann leise: „Gott sei Dank vergisst man. Erst wenn man danach gefragt wird, erinnert man sich und merkt, dass sich da doch etwas eingebrannt hat“. Sie spricht als eine der letzten Zeitzeuginnen über einen der sogenannten „Todesmärsche“, der 1945 ihr Dorf passierte. In der Endphase des Zweiten Weltkrieges wurden tausende entkräftete KZ-Häftlinge dazu gezwungen, die frontnahen Lager zu verlassen. Ohne geeignete Kleidung und Versorgung mussten sie bis zu 40 Kilometer am Tag marschieren. Wer zusammenbrach, wurde sofort erschossen. Ein historisch gut erforschtes, aber in der kollektiven Erinnerungskultur wenig präsentes Kapitel nationalsozialistischer Verbrechen. Das Zitat der Zeitzeugin zeigt: Vergessen ist keine Option, weder für die Opfer und die Überlebenden, noch für unsere Gesellschaft. Aber können wir auch filmisch an den Holocaust erinnern?

Diese Frage ist nicht neu und berührt das Dilemma, Bilder für etwas zu finden, was sich unserer Vorstellungskraft gänzlich entzieht. Claude Lanzman hat in diesem Kontext einmal gesagt, fände er authentische Bilddokumente aus den Gaskammern, würde er sie sofort vernichten. Mit „Shoah“ (1985) etablierte er stattdessen die Methode, Orte aufzusuchen, denen die dort verübten Verbrechen nicht mehr anzusehen sind. Für „Nicht verRecken“ orientiert sich Martin Gressmann an diesem Konzept…

Der vollständige Text ist online auf Protokult, der Online-Plattform für die Protokolle der Duisburger Filmwoche, erschienen. Hier geht’s direkt zum Text.

Außerdem erschienen in diesem Rahmen Protokolle von mir zu:

Köy (R: Serpil Turhan)
Herr Bachmann und seine Klasse (R: Maria Speth)
Zuhurs Töchter (R: Laurentia Genske, Robin Humboldt)

Die Schnittmeisterin (an.schläge)

Keine österreichische Filmeditorin hat mehr Filme und Serien montiert als Ingrid Koller. Jetzt wird sie in Deutschland für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.

Frauenfiguren die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, muss aber irgendwann doch lachen. Dass der Film Noir mit seinen ironischen Gesangseinlagen und jeder Menge Hardboiled-Klischees heute noch funktioniert, ist vor allem Ingrid Koller zu verdanken. Ihre Montage an „Müllers Büro“ offenbart ihr Können und die Herausforderung des perfekt getimten Komödien-Schnitts.

Dabei war es für sie kein Kindheitstraum, „Filmeditorin“ zu werden. „Niemand will das, weil die meisten gar nicht wissen, was das ist. Selbst die aus der Branche nicht“, lacht sie und atmet hörbar Zigarettenrauch aus. Dabei kann die Bedeutung des Filmschnitts für den fertigen Film kaum überschätzt werden. Anders als viele vermuten, gibt die Regie nicht vor, an welcher Stelle geschnitten wird. Filmeditor*innen sichten das gesamte gedrehte Material, wählen die besten Einstellungen aus und setzen alles zu einer verständlichen Narration zusammen, bei der Spannung entsteht und das Timing von Pointen sitzen muss. 1950 wird Koller in eine filmaffine Familie in Wien…

Erschienen in: an.schläge VII/2021 (Print). Hier geht’s zum vollständigen Artikel.

Verrückt sind die anderen

Psychische Erkrankungen im Film

Die Darstellung psychischer Krankheiten ist ein beliebtes Filmsujet. Besonders Borderline, dissoziative Persönlichkeitsstörung oder paranoide Schizophrenie sind gern herangezogene Motive oder rückwirkende Erklärungsmuster. In Mindfuck-Movies wie „Fight Club“, „Identity“ oder „Shutter Island“ steht nicht die realistische Abbildung eines Krankheitsbildes im Fokus, die Diagnose dient hier der Plausibilität des Plot Twist. Porträts von Persönlichkeiten wie Mathematiker John Nash („A Beautiful Mind“) oder Pianist David Helfgott („Shine – Der Weg ins Licht) sind schon eher um die reale Darstellung der Krankheit bemüht – Nash litt an Schizophrenie, Helfgott hat eine schizoaffektive Störung. Instabile Psychen sind aber auch schon mal Motor einer (romantischen) Komödie wie in „Besser geht‘s nicht“ oder „Benny & Joon“. Die Frage, was die psychisch erkrankte Person und ihr Handeln von uns vermeintlichen „Normalos“ unterscheidet, fasziniert dabei so sehr, wie das Szenario zu Unrecht für „verrückt“ gehalten zu werden („Einer flog über das Kuckucksnest“). Der österreichischen Regisseurin Marie Kreutzer ist mit „Der Boden unter den Füßen“ (Start: 16.5.) ein Film auch über paranoide Schizophrenie gelungen, der kein Drama, kein Thriller und auch keine romantische Komödie ist, aber dennoch ziemlich spannend.

Eine psychische Herausforderung wollen traditionell auch die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen sein (1.-5. Mai). Das Themenprogramm widmet sich diesmal aus historischen, sozialen und ästhetischen Perspektiven dem Genre Trailer: vom klassischen Filmtrailer, über Werbetrailer für kinotechnische Innovationen bis hin zu Trailermaterial als Ausgangspunkt für Arbeiten audiovisueller Künstler*innen. In der Sektion Profile stehen unter anderem das Frühwerk des russischen Regisseurs Alexander Sokurow oder die philippinische Künstlerin und Filmemacherin Kiri Dalena im Fokus. Weitere vertraute Sektionen wie die Wettbewerbe, der MuVi-Preis für das beste deutsche Musikvideo und ein Rahmenprogramm halten die Hirne außerdem reizüberflutend auf Trab.

Danach geht es mit dem 71. Filmfestival von Cannes (14.-25. Mai) weiter. Über das diesjährige Programm an der Croisette stand zu Redaktionsschluss noch nicht viel fest – außer dass vermutlich kein Netflix-Film zu sehen sein wird. Als sicher gilt dagegen die Premiere von Quentin Tarantinos neuestem Film. Allein, weil am 21. Mai 1994 „Pulp Fiction“ ebenfalls in Cannes Premiere feierte. In „Once Upon a Time in Hollywood“ erzählt Tarantino nun vor der historischen Folie der Manson-Morde 1969 die Geschichte eines abgehalfterten TV-Western-Stars. Bei dem realen Sektenführer Charles Manson, der Adolf Hitler bewunderte, im Alter von 80 Jahren im Knast eine 24-Jährige ehelichte und 2017 starb, wurde übrigens nie eine psychische Krankheit diagnostiziert. Als völlig durchgeknallten Irren darf man ihn aber trotzdem bezeichnen.

Dieser Text erschien im trailer ruhr-Magazin 05/19 und online auf www.trailer-ruhr.de

Frauen sind erst der Anfang: Diversität im Film: ein weiter Weg

Manchmal markieren Erscheinungstermine unüberwindbare Deadlines und scheren sich nicht darum, ob gerade die Berlinale Bären oder die Academy Oscars verleiht. So erging es mir mit der Märzausgabe. Die Berlinale liegt nun so lange zurück, dass einige der dort gezeigten Filme schon im April in unseren Kinos starten. Darunter ist zum Beispiel Christian Petzolds neues Werk „Transit“: Ein politischer Flüchtling versucht mittels falscher Identität vor den Nazis von Südfrankreich nach Amerika zu fliehen. Basierend auf Anna Seghers Anfang der 1940er im Exil verfassten Roman, siedelt Petzold seine Geschichte im Marseille der Gegenwart an und macht sie dadurch zu einer zeitlosen Parabel. „Jede Flüchtlingsgeschichte ist anders. Jede Flüchtlingsgeschichte ist gleich“, schrieb dazu das US-amerikanische Filmmagazin „Indiewire“.

Ebenfalls im April geht auch Greta Gerwigs Coming-of-Age-Wunder „Lady Bird“ an den Start. Die moderne Mumblecore-Variante einer Stadtneurotikerin zeichnet für Drehbuch und Regie verantwortlich, Soirse Ronan spielt einen Teenager in den 1990ern in Sacramento. „Lady Bird“ wurde gleich in fünf Kategorien für den Oscar nominiert: Beste Regie, Bester Film, Bestes Originaldrehbuch, Beste Hauptdarstellerin, Beste Nebendarstellerin – und ging in allen leer aus. Gerwig war erst die fünfte Frau, die in der Kategorie Beste Regie nominiert wurde. Nach Lina Wertmüller, Jane Campion, Sofia Coppola und Kathryn Bigelow, die den Oscar dann gewann. Bei einer Nominierung blieb es auch für Rachel Morrison („Mudbound“). Da bisher keine einzige Frau in der Kategorie Beste Kamera überhaupt eine Chance auf einen Oscar erhielt, ist das bereits ein kleiner Sieg.

Richtig Spaß machte diese Verleihung aber nicht. Allein Frances McDormands flammende Rede, die sie nach Empfang des Goldjungen für „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ hielt, entschädigte für die Augenringe bis zum Kinn am nächsten Morgen. Außerdem lernten wir von McDormand den Terminus „inclusion rider“: Eine Klausel, die US-SchauspielerInnen in ihre Verträge aufnehmen können, um geschlechtliche wie ethnische Diversität vor wie hinter der Kamera einzufordern. Die Gleichstellung und Repräsentation von Frauen am Set ist da erst der Anfang. Stacy Smith, Professorin an der Universität von Kalifornien, hatte bereits 2014 in einem Artikel im „Hollywood Reporter“ darauf aufmerksam gemacht. Schauspielerin Brie Larson, „Black Panther“-Star Michael B. Jordan und Matt Damons und Ben Afflecks Produktionsfirma „Pearl Street Films“ haben offiziell verlauten lassen, den „inclusion rider“ in ihre Verträge aufzunehmen.

Wenig Probleme mit Diversität hat das Internationale Frauenfilmfestival Dortmund | Köln, das in diesem Jahr zum 35. Mal stattfindet. Nahezu alle der rund 100 gezeigten Filme stammen von Frauen und / oder haben eine starke Frauenfigur als Protagonistin. Mit einem speziellen Preis für Bildgestaltung werden außerdem explizit zwei Kamerafrauen gewürdigt und der diesjährige Fokus „Über Deutschland“ beschäftigt sich nicht nur in vielen Formaten mit Diversität, sondern lebt diese auch. Der Schwerpunkt ist dieses Jahr in Köln, aber auch im Kino im U werden ausgewählte Filme zu sehen sein.

Dieser Text erschien im trailer ruhr-Magazin 04/18 und online auf:
www.trailer-ruhr.de
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NRW-Wettbewerb der Kurzfilmtage Oberhausen 2016

NRW ist ein weites Bundesland. Knapp 18 Millionen Bewohner finden darin Platz, geografisch streckt es seine Fühler sowohl in die Republik, als auch nach Belgien oder in die Niederlande aus. Es beinhaltet mit dem Ballungsraum der Rhein-Ruhr-Region eine der größten Metropolregionen der Welt und 29 von 77 Großstädten Deutschlands. Wenig verwunderlich, dass die Kultur- und auch die Filmszene hier äußert vital und vielseitig ist.

Im NRW-Wettbewerb konkurrierten 2016 zwölf in Sujet, Genre und Ästhetik sehr unterschiedliche Werke um die Preise. Zwei Preise vergab die Jury (bestehend aus Florian Deterding, Leiter der Düsseldorfer Black Box, Andreas Heidenreich, Vorsitzender des Bundesverbands kommunale Filmarbeit und der Kuratorin Sylke Gottlebe), den Publikumspreis kürte die West ART-Zuschauerjury.

Zu der Kategorie der im weitesten Sinne dokumentarischen Filme zählte „Erfrischt einzigartig“ von dem in Dortmund lebenden Kameramann und Filmemacher Johannes Klais. Neben Trinkhallen sind auch Kaugummiautomaten ein aussterbendes Markenzeichen des Ruhrgebiets, denen Klais in seinem Film nachspürt. Dabei streift er Themen wie die soziale Verödung von Innenstädten und ganzer Stadtviertel durch den Abbau von Arbeitsplätzen und Verdrängung von Einzelhändlern, bis nur noch der Metzger übrig ist und von der guten, alten Zeit erzählt. Ein Film mit sympathischem Galgenhumor, bei dem Assoziationen an die Oberhausener Marktstraße leider nicht abwegig sind.

Ebenfalls sozialkritisch, aber filmisch weniger puristisch ist „Ein Aus Weg“ von Simon Steinhorst und Hannah Lotte Stragholz. Von einem Seelsorger in einer JVA befragt, erzählt der Kleinkriminelle Alex K. von seinem Leben zwischen Normalität und Drogendelikten. „Ich mache halt, was ich gut kann und das ist klauen“ berichtet er nüchtern, schwärmt aber auch von seiner Freundin und  träumt von einem Leben jenseits der Gitterstäbe. Im Kontrast zu der sachlichen Dialogebene stehen die farbenfrohen und teilweise verträumten Animationen von Hannah Lotte Stragholz. Die West ART-Zuschauerjury vergab dafür einen mit 750 Euro dotierten Preis.

Auch der Förderpreis im NRW-Wettbewerb und 500 Euro Preisgeld gingen an einen animierten Film. In „Das Leben ist hart“ bringt Regisseur Simon Schnellmann mit simplen Strichen diese Weisheit auf den Punkt. In fünf sketchartigen Episoden trifft er mit einfachsten Mitteln den Humor des Publikums, auch wenn einige danach niemals wieder arglos an einem Eis lecken werden.
Aber auch die animierte Fabel „Ginko & Kinko“ von Jie Lu, die schon 2012 mit dem surrealistisch angehauchten „Ein Schuh geht barfuss“ in Oberhausen zu Gast war, berührte den Bertachter. In schattenspielartigen Bildern in Schwarz und Rottönen erzählt die gebürtige Chinesin Lu von dem alten Ginko und seinem Sohn Kinko und zeigt, dass Glück und Unglück oft nah beieinander liegen.
Überzeugen konnten wie so oft im NRW-Wettbewerb aber auch die narrativen Werke mit Spielfilmcharakter. Momentaufnahmen einer Coming of Age-Story am Ende eines Schweizer Sommers zeigt „J’ai tout donné au soleil sauf mon ombre“ (I Gave Everything to the Sun, Except My Shadow) von Valérie Anex und Christian Johannes Koch. Eine junge Frau hinterfragt ihre Beziehung: Ist es Liebe? Oder nur Sex? Sprachlosigkeit statt offenbarter Gefühle drücken sich in kunstvoll komponierten und dennoch intimen Bildern aus, über die sich eine Ahnung von Abschied und Aufbruch legt.

Erzählerisch stark ist auch Christian Beckers und Oliver Schwabes „Der Bruder“. Eine leer stehende Kaserne auf dem platten Land. Ein Mädchen versteckt sich und ihren autistischen Bruder. Warum und wie lange schon, weiß niemand. Ein Vater sucht beide, eine Polizistin findet sie. Während er sich mit der neuen Situation arrangiert und barfüßig seine neue Umgebung erkundet, liegt in ihrem krampfhaft Normalität suggerierendem Verhalten eine schwere Last. Wovor ist sie weggelaufen? Warum hat sie ihn mitgenommen? Wie soll es weiter gehen? Diese Zeitblase der Ungewissheit platzt mit einem unerwarteten Ende auf.

Atmosphärische Bilder aus der Provinz Westfalen um 1873 generiert „Der einsame Hof“ von Christian Zipfel. Eine Viehherde wird geklaut, eine Tochter geschwängert und die Ernte verdirbt. Das alles in westfälischer Mundart in Schwarz-Weiß-Bildern voller Verzweiflung und ohne Happy End. Schlimmer kann es den Pilgervätern Amerikas auch nicht ergangen sein.

Den mit 1.000 Euro dotierten Preis für den besten Beitrag des NRW-Wettbewerbs vergab die Jury mit „Ocean Hill Drive“ von Miriam Gossing und Lina Sieckmann aber an eine experimentelle Arbeit, produziert von der KHM Köln. Eine Frauenstimme aus dem Off führt uns durch ihr Haus in Massachusetts und durch die Umgebung. Die eingerichteten Räume voller persönlicher Dinge sind menschenleer und auch ein Flickereffekt stört immer wieder das Bild, die Szenerie wirkt unheimlich. Doch kein Geist oder ein anderes übernatürliches Phänomen ist dafür verantwortlich, sondern eine falsch installierte Windkraftanlage. In der Begründung lobte die Jury Film und Macherinnen für den „Sog, der die Spannung zwischen Surrealistischem und Dokumentarischem hält“ und für die „Aussagekraft ihrer Bilder, die eine feinsinnige Verbindung mit der Tonebene eingehen“.

Die beiden Programme des NRW-Wettbewerbs, seit 2009 Bestandteil der Kurzfilmtage Oberhausen, sind mittlerweile kein Geheimtipp mehr. So sieht es auch Juror Andreas Heidenreich, der 2016 zum zweiten Mal Teil der insgesamt drei Jahre amtierenden Jury war. „Man hat sich inzwischen an das durchweg hohe Niveau im NRW-Wettbewerb gewöhnt“, sagte er im Rahmen der Preisverleihung am 10.5. in der Lichtburg Oberhausen. Eine Aussage, die für Jury und Publikum gleichermaßen gilt.