Woody Allen zum 80. Geburtstag

Woody Allen
*1.12.1935

„Ich will nie einem Club angehören, der einen wie mich als Mitglied aufnimmt.“ Dieser Satz aus der Eröffnungssequenz von Der Stadtneurotiker charakterisiert Woody Allens Haltung zum Business Hollywood. Als er 1978 dafür mit vier Oscars ausgezeichnet wird, spielt er wie jeden Montag in seinem Stammpub Klarinette. Hollywood ist auch künstlerisch kein Vorbild. Er orientiert sich an europäischen Vorbildern. Mit Innenleben, September oder Eine andere Frau liefert er Charakterstudien mit Großaufnahmen von sprachlosen Figuren in verstörenden (Bild)räumen voller Leere, bei Letzterem arbeitet er mit Sven Nykvist zusammen, dem Kameramann seines Favoriten Ingmar Bergman.

Harry außer sich experimentiert mit Jump Cuts und dekonstruktivistischer Formsprache, inspiriert durch die russische Avantgarde. Mit Stardust Memories zollt er Federico Fellini Respekt. Sein schönster Schwarzweiß-Film ist aber Manhattan.  Eine Ode an den Big Appel, eröffnet durch urbane Impressionen, untermalt von George Gershwins rhapsodischen Klängen. New York war seine Stadt, blieb es aber nicht immer. Allen Steward Konigsberg, so der bürgerliche Name Allens, wurde 1935 in der Bronx geboren. Mit 16 Jahren bessert er sein Taschengeld als Gagschreiber auf, entwickelt als Stand up-Comedian seine Paraderolle als neurotischer, tollpatschiger Intellektueller, verfasst Theaterstücke und erlangt mit Bananas, Der Schläfer oder der Posse Was sie schon immer über Sex wissen wollten in den 1970er Jahren ein Renommee als Macher schräger Slapstickstreifen.

Die letzte Nacht des Boris Gruschenko ist erstmals auch von einem düsteren, melancholischen Grundton durchwirkt, der Allens Schaffen bis in die 1980er dominiert. Der Stadtneurotiker, seine erste Zusammenarbeit mit Kameramann Gordon Willis, lebt von einer völlig neuen bildästhetischen und narrativen Form. Darsteller wenden sich direkt an den Zuschauer, heimliche Gedanken werden während eines Gesprächs als Untertitel eingeblendet.

An einer Stelle zerrt Alvy Singer, wieder gespielt von Allen selbst, Medientheoretiker Marshall McLuhan hinter einer Wand hervor. Mit Zelig, Hannah und ihre Schwestern und Verbrechen und andere Kleinigkeiten wendet er sich wieder Elementen der Komödie zu und brilliert mit Beziehungs-geschichten. Männer und Frauen – dieses Thema ist der rote Faden, der sich durch alle seine Werke zieht.

Die 1990er sind eher eine lockere Phase in Allens Oeuvre. Trotz Mord (Manhattan Murder Mystery), Dramatik mit einem griechischem Chor (Geliebte Aphrodite) oder Hollywood-Satire (Celebtrity) sind die Filme in dieser Zeit leicht, ohne aber seicht zu sein. Danach verschlägt es Allen nach London, wo er 2005 mit Match Point seinen ersten Thriller und komplett ernsten Film verwirklicht, der von Publikum und Kritik gleichermaßen bejubelt wird. Filmisch verweilt er dort, bevor er den Rest Europas für sich entdeckt.

Er inszeniert einen flotten Dreier in Barcelona, feiert die Roaring Twenties um Mitternacht in Paris und sendet Liebesgrüße aus der ewigen Stadt. Zwischendurch platziert er sein zynischstes und gleichzeitig lebensbejahendstes Werk Whatever Works, wo er Seinfeld-Schöpfer Larry David seine Rolle einnimmt.

Mehr als 40 Filme hat er bis jetzt gemacht, bei der Mehrzahl ist er Regisseur, Drehbuchautor und Darsteller in Personalunion und ist damit eine der produktivsten Persönlichkeiten der Filmgeschichte. Doch Allen bleibt bescheiden, dreht hoffentlich auch mit über 80 Jahren noch jedes Jahr einen weiteren Film und spielt jeden Montag Klarinette.

Erschienen in:  Werner / Bothmann, Nils (Hrsg.): Schüren Filmkalender 2015, Schüren Verlag 2014.

Interview mit Lars Henrik Gass, Festivalleiter der Kurzfilmtage Oberhausen (2016)

Maxi Braun: Herr Gass, Sie sind seit fast 20 Jahren Festivalleiter der Oberhausener Kurzfilmtage. Wird es langsam langweilig?
Lars Henrik Gass: Mir nicht. Es sind ja auch jedes Jahr andere Filme und im Gegensatz zum Langfilm ist die Szene viel stärker in Bewegung. Man hat es in den Wettbewerben jedes Jahr zu 50 % mit Menschen zu tun, von denen man vorher noch nie etwas gehört hat. Das hält uns auch selbst jung.

Wie haben sich in den letzten 20 Jahren die Herausforderungen an Festivals insgesamt verändert?
Sehr stark und auf mehreren Ebenen. Zum einen sind da die technischen Herausforderungen, da müssen wir Schritt halten mit der Entwicklung. Wir haben vor Jahren die Online-Einreich-Plattform reelport.com eingerichtet, die mittlerweile unabhängig ist, aber noch immer unsere Online-Einreichungen verwaltet.
Zum anderen hat sich das Freizeitverhalten, auch durch die Digitalisierung, verändert. Die Menschen sind es gewohnt, Angebote im Internet wahrzunehmen und sie bewegen sich nicht mehr so gerne vor die Tür. Wir haben daher versucht, die Qualitäten einer Live-Erfahrung durch bestimmte Maßnahmen zu stärken. Wir merken, dass wir heute weitaus mehr tun müssen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Es reicht heute einfach nicht mehr, ein Festivalmagazin auszulegen. Im Gegenteil, ich habe den Eindruck, dass sowas im Überangebot von Freizeitaktivitäten unterzugehen droht. Man muss sich schon im Vorfeld der Veranstaltung Gedanken machen, wie man Zielgruppen erreicht, diese pflegt und wer überhaupt Zielgruppe sein könnte. Das beschäftigt uns vielmehr als noch vor 20 Jahren. Wir arbeiten im Team aber auch schon fast genauso lange zusammen und das führt zu einem gemeinsamen Lernprozess. Das schärft die Sinne, wir schauen genauer hin und können Dinge besser verändern. Für Festivals besteht aber nach wie vor eine realistische Perspektive auf dem Freizeitmarkt zu bestehen, sofern sie ihre sinnlichen Qualitäten weiterentwickeln und stärken, statt diese abzubauen.

Gibt es besondere Herausforderungen für die Kurzfilmtage?
Die Kurzfilmtage stehen nach 60 Jahren in einer völlig anderen Tradition. In den 50er Jahren war noch nicht einmal das Fernsehen verbreitet, geschweige denn dass jemand an etwas wie das Internet gedacht hat. Es gab zu diesem Zeitpunkt außer Oberhausen deutschlandweit nur zwei weitere Filmfestivals, in Berlin und Mannheim. Im Bereich des Kurzfilms hatte Oberhausen eine Alleinstellung, was nicht mehr der Fall ist. Heute muss man sich genau überlegen, wie man sich von „Mitbewerbern“ unterscheidet. Das habe ich aber nie als Druck erlebt sondern als Chance, besser zu verstehen, was wir hier tun.

Was sind denn die die sinnlichen Qualitäten eines Festivals, speziell in Oberhausen?
Das verbinde ich jetzt nicht unmittelbar mit der Stadt sondern mit der Frage, wie etwas präsentiert wird. Das beginnt schon mit den Gedanken, die man sich über die Haptik der Druckerzeugnisse macht. Indem man sich zum Beispiel fragt, wie sich der Katalog anfühlt. Das ist eine sehr bewusste Entscheidung, die auch immer mit der Geschichte der Gegend und mit der Stahlproduktion zusammenhängt. Es macht eine bestimmte Ästhetik erforderlich und formt unsere Identität. Sinnliche Qualität bezieht sich auch auf die Projektion und die Performance, auf deren Qualität wir sehr viel Wert legen. Alles soll auf der Leinwand möglichst schön und gut aussehen, damit es dann auch eine Alternative dazu ist, sich einen Film auf einem Smartphone anzuschauen.
Hinzu kommt der soziale und kollektive Aspekt. Es ist interessanter, sich gemeinsam mit anderen Menschen Filme anzusehen. Und zwar nicht mit fünf anderen im kommunalen Kino, sondern mit 400 Zuschauern, die alle sehr leidenschaftliche Reaktionen auf etwas zeigen. Das ist eine besondere Erfahrung, die man Zuhause nicht machen kann.
Außerdem machen wir vieles, was man im Internet oder auch im Team nicht nachstellen kann. Das geht bei Diskussionen los, über Live-Veranstaltungen, Performances und Lesungen bis hin zum Barbesuch am Abend wo Musik gespielt wird. Das ist für mich auch ein energetischer Raum, eine Gemengelage aus ganz unterschiedlichen Sinneseindrücken, die auch intellektuelle Impulse bietet. Alles zusammen ergibt dann eine Erfahrung, die man hier erleben kann, wenn man sich dem über einen gewissen Zeitraum auch aussetzt.

Das gilt auch für Langfilmfestival. Was kann denn der Kurzfilm besser als der Langfilm?
Der Kurzfilm hat leider einen kleinen Marktnachteil in 99 % der Fälle, weil er nicht mit großen Namen aufwartet. Das ist aber auch ein Vorteil. Die Konventionen und der Druck des sogenannten Filmmarkts lasten nicht auf dem Kurzfilm. In ihm kann sich deshalb die kinematographische Sprache immer wieder freier erneuern.
Natürlich gibt es auch im Kurzfilm Konventionen und Leute die versuchen, sich in 15 Minuten für den nächsten Tatort zu qualifizieren. Das geht auch in Ordnung, aber ist nicht unbedingt das, was wir hier zeigen müssten. Ein anderer Vorteil des Kurzfilms ist, dass man ihn interessant programmieren kann. Wenn ich mir einen Langfilm anschaue, egal welchen Genres, ob Doku oder Spielfilm, habe ich in 90 Minuten einen bestimmten Entwurf, mit dem ich als Zuschauer klarkomme oder eben nicht. In einem Kurzfilmprogramm bin ich mit ganz unterschiedlichen kulturellen Fragestellungen und Sichtweisen verschiedener Geschlechter beschäftigt. Wir versuchen in der Regel, auch wenn es nicht immer gelingt, die Programme so zu bauen, dass diese Erfahrung möglich wird und das ganze Programm dann auch wiederum als Einheit erlebt werden kann. Auch wenn die Filme nie so gedacht waren, dass sie als Einheit gezeigt werden.

Kuratieren Sie die Programme also bewusst als ästhetische, geografische oder thematische Einheit?
Ich würde das nicht als kuratieren bezeichnen, der Begriff wird zu inflationär gebraucht. Wir achten lediglich darauf, dass sich die Filme nicht gegenseitig Schaden zufügen sondern ihren eigenen Raum entfalten können. Anders als es oft bei der kuratorischen Praxis der Fall ist, geht es uns nicht darum, selbst eine künstlerische Handschrift erkennbar werden zu lassen. Unser Ziel ist es, die künstlerische Handschrift der Filme unverstellt erleben zu können.

Die Kurfilmtage zeigen 550 Filme, mehr als auf der Berlinale gezeigt werden…
…in der Hälfte der Zeit!

Wie findet man sich da als Besucher am besten zurecht?
So ein Festival ist ein gefährlicher Ort. Es besteht immer die Möglichkeit eines Missgriffs. Gerade auf einem Festival wie unserem, bei dem die Zuschauer wenig Orientierung haben. Auf Langfilmfestivals kennt man meist wenigstens die Schauspieler oder Filmemacher. Das ist bei uns in der Regel nicht der Fall. Der Zuschauer ist bei uns relativ verloren und auf dieses Risiko muss man sich schon einlassen. Es gibt aber Hilfestellungen. Wer sich beispielsweise für Musik interessiert, schaut sich die MuVi-Sektion an. Bei Interesse für verschiedene Regionen kann man sich, zum Beispiel anhand des Katalogs, ebenfalls gut orientieren. Aber ein Risiko bleibt es trotzdem. Bei einem Festival dieser Größenordnung kommt hinzu, dass man ein gewisses Spektrum des Publikums abdecken will. Innerhalb des spezialisierten Fachpublikums gibt es schon viele divergente Ansprüche: von dezidiert künstlerischen bis zu dem Wunsch, Filme auch für Kinder auswerten zu können. Aber auch das breite Publikum kommt mit für uns schwer kalkulierbaren Interessen.

Das Thema beschäftigt sich diesmal unter dem Motto „El pueblo“ mit dem lateinamerikanischen Film. Worum geht es?
Zu dem Begriff „el pueblo“: Wir behalten den Begriff im spanischen Original bei, weil er eine physische Einheit von der kleinsten Hütte über größere soziale Gruppen bis hin zum ganzen Volk umfasst. Dafür gibt es im Deutschen keine Analogie. Der Begriff des Volkes ist in Lateinamerika nicht so vorbelastet wie bei uns. Aber auch hierzulande gibt es eine längere Begriffsgeschichte über das Dritte Reich hinaus. Zum Beispiel als Ruf bei Demonstrationen in der DDR vor dem Fall der Mauer, aber in jüngerer Vergangenheit auch in rechtspopulistischer Umdeutung, wenn der Ausruf „Wir sind das Volk“ vor Asylbewerberheimen rassistisch vereinnahmt wird.
Im Begriff „el pueblo“ schwingen viele Bedeutungen mit. Was uns dabei interessiert ist eine Begriffsschärfung: Wer betrachtet sich unter welchen Umständen eigentlich als Volk und transportiert das auch?

Gibt es den lateinamerikanischen Film denn überhaupt?
Das ist eine völlig berechtigte Frage. Das wäre so, als würde man von dem europäischen Film sprechen. In Lateinamerika waren anders als in Europa in den späten 60er bis in die 80er Jahre fast durchweg Militärdiktaturen an der Macht, die das Volk unterdrückt haben. Im Grunde sprechen wir über post-diktatorische Gesellschaften, die eine traumatisierende Erfahrung verbindet, die verarbeitet werden muss. Auch im künstlerischen Bereich wurden darauf Antworten gefunden und daher unterscheidet sich in Filmen aus Lateinamerika auch die Ästhetik und die Art, wie über politische Themen nachgedacht wird, stark von unserer eigenen.
Man darf aber nicht vergessen, dass es in Europa auch vor dem Dritten Reich faschistische Regime in Ungarn oder Italien gab. Im Grunde kann man vielleicht doch über diesen historischen Zeitpunkt nach 1945 in Europa ähnliches sagen. Der neorealistische Film ist ja auch eine Reaktion gewesen auf das Vierteljahrhundert der Diktaturen in Europa.

Gibt es auch neue Sektionen bei der 62. Ausgabe?
Die „Positionen“ sind neu und reflektieren zweierlei. Erstens die über die Jahre entwickelte Fragestellung, wie Film und Kunst in ein Verhältnis treten und welchen Platz die Kurzfilmtage dabei einnehmen wollen. Wir sind nicht Teil des Kunstbetriebs, sondern nehmen eine Beobachterrolle ein. Zum anderen interessiert bei dieser Sektion die Frage, welche Kriterien bei der Präsentation von Filmen im Kunstbetrieb – im Bereich der Privatgalerie, des öffentlichen Museums und der Privatsammlung – angewandt werden. Diese Bereiche wollen wir in Resonanz zueinander bringen. Deshalb werden die Programme dieser Sektion auch alle an einem Tag gezeigt, damit eine kritische Auseinandersetzung darüber entsteht, wie diese filmischen Arbeiten präsentiert werden. Ob und wie das funktioniert, vermag ich noch nicht zu sagen.

Wie wird das praktisch aussehen?
Dort werden Werke bzw. Ausschnitte aus den Beständen und Sammlungen gezeigt, wobei die Kuratoren durchaus frei sind in der Art und Weise, wie sie etwas präsentieren. Man kann sich das eher wie einen Vortrag mit Filmbeispielen vorstellen.

Der Anteil von Filmemacherinnen beträgt bei den Kurzfilmtagen 50%. Ist das das Resultat einer internen Frauenquote oder Zufall?
Das ist reiner Zufall. Bevor wir eine Auswahl in den Wettbewerben festlegen, diskutieren wir auch solche Aspekte. Sollte es so sein – was nicht der Fall war – dass Frauen massiv unterrepräsentiert wären, dann würden wir möglicherweise eingreifen und die Auswahl nochmal hinterfragen. Das war aber gar nicht nötig.
Ich selbst bin kein Anhänger der Frauenquote aus mehreren Gründen, auch wenn es als Mann schwierig ist darüber zu sprechen. Da wir überhaupt keine Mühe haben, gute Filme von Frauen zu finden, verstehe ich auch nicht, wo das Problem ist. Ich kenne außerdem eine Menge Frauen, die auch im Langfilm beachtliche Erfolge feiern. Zum Beispiel Andrea Arnold. Sie war jetzt wieder in Cannes und wir hatten sie gleich zweimal im Wettbewerb. Auch international setzen sich also Frauen durch, aus Gründen die ich und vielleicht auch sonst niemand kennt. Das über eine Quote zu regeln finde ich schwierig, denn es hat letztlich mit künstlerischem Vermögen zu tun. Das ist etwas anderes, als wenn es um Vorstandsposten geht.

Zuerst erschienen in: trailer 05/16, online unter: www.trailer-ruhr.de

„Perspective Daily“ bietet konstruktiven Netz-Journalismus (Portrait)

Die Welt ist noch zu retten

Medien sind – und das nicht erst seit dem Digitalzeitalter – unser Zugang zu Informationen und somit zu der Welt, die uns umgibt. Die Art, wie und worüber sie berichten, prägt das Bild mit, das wir uns von der Welt, der Gesellschaft und unserer eigenen Position darin machen.

Wer eine Nachrichtensendung einschaltet oder Zeitung liest, kennt das Gefühl: Terroranschlag, Flutkatastrophe, Waldbrand, Unfälle und Krieg sind uns zur Gewohnheit geworden. Für die komplexen Probleme unserer Zeit scheint es keine Lösungen mehr zu geben. Daraus folgt nicht selten ein Gefühl der Ohnmacht, die wiederum in Resignation mündet. Warum also nicht einfach mit K.I.Z.s „Wir sitzen im Atomschutzbunker, Hurra, diese Welt geht unter“ auf den Lippen der unabwendbaren Apokalypse harren?

Dieser „erlernten Hilflosigkeit“, ein aus der Psychologie entlehnter Begriff zur Erklärung depressiver Erkrankungen, möchte das Gründer-Trio von „Perspective Daily“ etwas entgegensetzen. Maren Urner und Bernhard Eickenberg kennen sich bereits seit der Schulzeit, der gebürtige Niederländer Han Langeslag stieß 2007 dazu. Mit ihrem Crowdfunding Projekt wollen die drei promovierten Naturwissenschaftler das erste deutsche Online-Medium für Konstruktiven Journalismus starten.

„Von der Idee bis zur 180°-Wendung von der Wissenschaft zum Journalismus war es ein längerer Prozess“, erklärt Han Langeslag, der wie die beiden anderen Gründungsmitglieder nicht mehr in der Forschung tätig ist, sondern sich vollständig auf das Projekt konzentriert. „Der Konstruktive Journalismus ist mittlerweile eine internationale Bewegung und vor kurzem wurde der erste Lehrstuhl für das Thema in den Niederlanden besetzt. In Deutschland fehlt es bisher an einer Stimme, die Mut macht und die Menschen aktiv dazu auffordert, in die Debatte einzusteigen“.

Bereits erfolgreiche Projekte im Ausland, z.B. De Correspondent in den Niederlanden, das Constructive Journalism Project und Positive News in Großbritannien oder das Solutions Journalism Network in den USA dienten dabei als Inspiration.

Angelehnt ist das Konzept an die Positive Psychologie. Diese formierte sich seit den 1980er Jahren als Gegenpol zur auf Defizite gerichteten Psychologie, analysiert auch Gefühle wie Glück und Optimismus. Mit Themen wie Flüchtlingssituation, Klimawandel, Islamismus und EU-Zusammenhalt auf der Agenda von Perspective Daily ist klar, dass der Fokus nicht auf positive Nachrichten verengt werden soll. Probleme sollen sichtbar gemacht und klar benannt, aber nicht als gegeben und unumkehrbar dargestellt werden. Im Aufzeigen neuer Perspektiven und der lösungsorientierten Berichterstattung liegt der Hauptunterschied zum klassischen Journalismus.

Angst vor Fachjargon und Schachtelsätzen müssen die LeserInnen nicht haben. „Die Artikel richten sich an Menschen, die mitdenken. Wissenschaftliche Themen wie z.B. die Energiewende werden herunter gebrochen, so dass sie auch ohne Vorkenntnisse verständlich sind. Wir wollen die Leser bei der Hand nehmen“, ermuntert Han Langeslag künftige LeserInnen und Mitglieder.

Diese Art der Berichterstattung erfordert genau wie die klassische Berichterstattung das journalistische Handwerkszeug. Gründliche, investigative Recherche soll den Artikeln auf Perspective Daily ebenso als Basis dienen wie Forschungsergebnisse oder soziologische Studien. Nah an der wissenschaftlichen Arbeitsweise ist dazu der Anspruch, eine uneindeutige Datenlage oder sich widersprechende Fakten auch als solche transparent zu machen.

Perspektive Daily will und kann so keine sich im Sekundentakt aktualisierende Nachrichtenseite sein. Angepeilt ist mit einem gründlich recherchierten Artikel pro Tag dennoch ein ambitioniertes Ziel, das ab Mitte April 2016 verwirklicht werden soll. Unterstützt werden die GründerInnen dabei von bereits ausgewählten GastautorInnen wie Glücksforscherin Ute Scheub oder Nahost- und Islamismusexperte Dr. Guido Steinberg. Kontakte zu und weitere Kooperationen mit wissenschaftlichen Einrichtungen und NGOs gehören genauso zum Konzept wie prominente Unterstützung von u.a. der Berliner Schauspielerin Nora Tschirner und Gesine Schwan.

Nachtrag 03.01.2017: Webpräsenz von Perspective Daily.7

Zuerst erschienen unter: www.trailer-ruhr.de

Navid Kermani liest aus „Ungläubiges Staunen“ in Bochum

Wenn ein evangelischer Pfarrer einen Muslim einlädt, um in einer auch profan genutzten Kirche über katholische Bildwelten zu sprechen, ist das ungewöhnlich. Wenn der geladene Gast auch noch Navid Kermani ist, passt dann aber doch alles zusammen.

Schwelgend stellt Pfarrer Arno Lohmann, Leiter der evangelischen Stadtakademie Bochum, den Autor vor: Habilitierter Orientalist, gewürdigt mit zahlreichen Auszeichnungen für sein literarisches und kulturelles Schaffen (zuletzt mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels) und Engagement für den interreligiösen und interkulturellen Dialog zwischen Europa und der islamischen Welt.

Mit dem Juristen, Kulturwissenschaftler und Goethe-Kenner Dr. Manfred Osten, der in diplomatischer Mission u.a. in Kamerun und im Tschad und fast eine Dekade als Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung tätig war, steht Kermani ein nicht minder kompetenter Gesprächspartner zur Seite.

Leichtfüßig und unterhaltsam

Unbeeindruckt von diesen Verdiensten entwickelt sich die Lesung leichtfüßig und unterhaltsam. In „Ungläubiges Staunen“ setzt sich Navid Kermani mit christlichen Bildwelten auseinander. Der Ansatz ist kein intellektuell-kunsthistorischer, sondern gründet in der Überwältigung und Faszination angesichts von Meisterwerken christlicher Motivik in der Malerei und Sakralarchitektur.

Vor der mehr als zur Hälfte gefüllten Christuskirche Bochum liest Kermani seine Kapitel zu den Themen Liebe und Lust, während er die dazugehörigen Bilder mittels Beamer zeigt. So, wie er von Farbe und Licht in El Grecos „Abschied Christi von Maria“ schwärmt oder seine Sprach- und Atemlosigkeit vor dem Gerhard Richter-Fenster im Kölner Dom schildert,  scheint Liebe der passende Leitfaden.

Doch dabei bleibt es nicht. In El Grecos Werk fällt ihm ein „komisches Schmachten“ auf, das so gar nicht zu der Mutter-Sohn-Beziehung passen will, in Caravaggios „Die Opferung Isaaks“ erkennt er im Vater den „Hausmeister Gottes“ und im Kölner Dom sieht er eher eine Menschenleistung: „Der Dom preist nicht Gott, son­dern die Köl­ner. Ich mag, das, nicht nur als Kölner.“

Die gelesenen Kapitel verraten, wie genussvoll störrisch Kermani in „Ungläubiges Staunen“ seine subjektive Analyse ausbreitet, augenzwinkernd frech, ausdrücklich gegen die kanonische Lesart, aber niemals beleidigend. Dieser Respekt vor der anderen, fremden Religion, macht ihn wie von Manfred Osten angekündigt zu einem „synoptischen Brückenbauer“. Die Christuskirche, vor der am 11.12. der Platz des europäischen Versprechens“ eröffnet wird, ist dafür ein würdiger Ort.

Dabei kann es aber auch an diesem Abend nicht bleiben. Schon lange vor Pegida, Paris und Europas Eintritt in den Krieg gegen den Terror des IS hat der Gottesglaube seine Unschuld verloren. Kermani selbst ist zu wach und kritisch gegenüber seiner eigenen Religion, als dass er dieses Thema meiden würde. Die kurzen Exkurse zwischen den vier vorgetragenen Abschnitten aus seinem Buch streifen auch ernste Themenfelder.

Islam und Islamismus

Da geht es um den Unterscheid zwischen der Theologie und sinnlich erfahrbarer Religiosität, die Körperfeindlichkeit des Christentums und um Islam und Islamismus. Auch hier zeigt sich Kermani als wacher Denker, der mit beiden Welten bis in Details vertraut ist.

Die wörtliche, gewalttätige Auslegung des Korans sei kein Problem der Orthodoxie, sondern eine Reaktion der Muslime auf die Schwäche und Unfähigkeit ihrer religiösen Lehrer, Antworten auf die Herausforderungen der Moderne zu finden. Mehrfach betont Kermani, dass Theologie dazu da wäre, das nicht Erklärbare zu erklären und nicht mit der sinnlich erfahrbaren Religion identisch sei.

Der Koran, so Kermani weiter, sei „ein liturgischer Text“ und kein Text an sich. Die martialische Lesart des Koran durch islamistische Terroristen sei somit auch keine Besinnung auf, sondern der Verlust der Tradition, die die Rezitation der Suren während des Gebets und nicht deren wörtliche Umsetzung fordert. „Es käme ja auch niemand auf die Idee, eine Partitur einfach vorzulesen ohne Musik. Wie die Partitur wird der Koran erst durch Gesang zum Text“, veranschaulicht Kermani. In diesem Kontext erlaubt sich der Optimist eine pessimistische Aussage „Der Glaube, dass Geschichte immer nach vorne geht und sich weiterentwickelt, wurde schon zu oft widerlegt. Ich glaube eher, sie verläuft zyklisch.“

Schlusspointe

Als es um „die ungeübten Knutscher“ in Giottos „Joachim und Anne“ und um Lust als Facette der Liebe geht, schließt die Lesung humorvoll ab. Der Auor beschreibt den ungewöhnlich leidenschaftlichen Kuss des älteren Paares, das das Strohfeuer der Jugendliebe überdauert hat. Lust und Sexualität beschäftigen Kermani. Denn aufgewachsen im protestantischen Siegen nahm er die Protestanten als „gute, aber nicht schöne Menschen“ wahr, bei denen er an „Nächstenliebe, nie an Sex“ dachte. Evangelische Kirchentage beschreibt er als „die unerotischste Veranstaltung“ seines Lebens. Die Begeisterung für alles Wolllüstige habe ihm aber nicht Körperfeindlichkeit des Christentums, sondern erst die allgegenwärtige Pornografie ausgetrieben, wo „alle alles, an allen Orten“ treiben.

Nach der Lesung signiert Kermani geduldig, bis keine Exemplare der mitgebrachten Bücher mehr übrig sind. Er schüttelt Hände und nimmt Bekundungen wie „Ich danke Ihnen, gut, dass es sie gibt!“ sichtlich errötend zur Kenntnis. Würden wir wie Kermani dem Fremden, dem jeweils Andern so offen und neugierig begegnen, ohne die Überzeugung, alles besser zu wissen – die Welt wäre eine andere. Der ökumenische Blick und die Horizonterweiterung, wie sie Manfred Osten eingangs ankündigte, sind zumindest an diesem Abend geglückt.

 Zuerst erschienen unter: www.trailer-ruhr.de

Es kann nicht nur den Einen geben (Leitartikel zum Thema Islam)

„Der Islam gehört zu Deutschland“. Was Ex-Bundespräsident Christian Wulff 2010 sagte, wiederholte Angela Merkel im Januar 2015 bei einer Kundgebung gegen islamistischen Terror, als Reaktion auf den Anschlag auf das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“. Aber diese Aussage ist unsinnig. Den Islam gibt es weder in Deutschland, noch sonst irgendwo. Der Islam fächert sich in verschiedene, einander teilweise spinnefeind gegenüberstehende Glaubensrichtungen und Subbewegungen auf. Das gilt nicht nur global, sondern auch für Deutschland. Selbst herunter gebrochen auf NRW, wo die Mehrheit der Muslime in Deutschland lebt, kann von „dem“ Islam nicht die Rede sein. Das deutsche Allgemeinwissen rund um den Glauben, zu dem sich weltweit etwa rund 1,5 Milliarden Menschen bekennen, wabert irgendwo zwischen den exotischen Märchen von 1001 Nacht und den Enthauptungsvideos des IS.

Wie komplex sich der Islam hierzulande präsentiert, verdeutlicht die Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ von 2008. Von der Deutschen Islam Konferenz in Auftrag gegeben, gilt diese erste bundesweite Befragung von Migranten auch 2015 noch als repräsentativ, ebenso wie die aus ihr hervorgegangene Zusatzstudie „Muslimisches Leben in NRW“ (2009). Die eindeutig größte Konfessionsgruppe stellen in NRW die Sunniten (80,4%). Mit großem Abstand folgen Aleviten (9,1%), die derzeit intern diskutieren, ob sie überhaupt zum Islam gehören, hinzu kommen Shiiten (6,1%), Ahmadi (0,4%), Sufi/Mystiker (0,2) und 3,7% „Sonstige“.

Wie der Islam insgesamt von Nicht-Muslimen wahrgenommen wird, darüber gibt eine Sonderauswertung des Religionsmonitors der Bertelsmann-Stiftung Auskunft. Ein Ergebnis der Umfrage von 2012 ist besonders ernüchternd: „Islamfeindlichkeit ist keine gesellschaftliche Randerscheinung, sondern findet sich in der Mitte der Gesellschaft“; das Image der vielfältigen Religion ist seitdem nicht besser geworden.

Diverse Akteure sind in Sachen Islam unterwegs, um das zu ändern. Denn anders als christliche Kirchen ist der Islam weniger hierarchisch. Eine höchste Autorität gibt es ebenso wenig wie einen formellen Aufnahmeakt, die Zahl der fest in Gemeinden organisierten Muslime ist unklar.

In neun Verbänden sind aber rund die Hälfte der Muslime in ganz Deutschland organisiert, vier davon üben den größten Einfluss aus. Mit 700-900 zu vertretenden Gemeinden steht die DITIB zahlenmäßig an der Spitze und würde gerne alle deutschen Muslime repräsentieren. Allerdings sind in ihr allein türkischstämmige Sunniten organisiert und sie ist dem Ministerpräsidentenamt in Ankara unterstellt, Imame und Geld kommen daher aus der Türkei. Auch der Verband islamischer Kulturzentren (VIKZ) vertritt Muslime mit türkischen Wurzeln. Multiethnisch sind der Islamrat der BRD und der Zentralrat der Muslime angelegt, die auch Stimmen von Gläubigen mit afrikanischen, arabischen oder bosnischen Wurzeln vertreten.

Ebenfalls verschiedenen Konfessionen will das erst im April 2015 auf Initiative der Konrad-Adenauer-Stiftung gegründete Muslimische Forum Deutschland Gehör verschaffen, zu deren Mitbegründern Prof. Dr. Mouchanad Khorchide oder Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor gehören. Letztere ist auch Vorsitzende des Liberal Islamischen Bundes. Dieser sieht sich „in der Verantwortung, die mehrheitlich liberalen Positionen des in Europa vorherrschenden Islamverständnisses zu vertreten“, fordert die dogmenfreie Diskussion des Koran und die Gleichstellung der Geschlechter wie die Anerkennung homosexueller Partnerschaften.

Auf kleinerer Ebene ist die Moschee das Zentrum einer jeden Gemeinde. Mal versteckt in Wohnsiedlungen, nicht einmal verraten durch ein Minarett, mal monumental wie die Merkez Moschee in Duisburg-Marxloh, die sich als interreligiöses und interkulturelles Begegnungszentrum versteht. Erst auf Gemeindeebende nähert man sich der Lebenspraxis von Muslimen, denn hier wird nicht nur der religiöse, sondern auch der weltliche Alltag organisiert. Die Aufgaben reichen weit über den Ruf zum Gebet hinaus: Seelsorge, Krankenpflege oder Jugendarbeit sind wie in christlichen Gemeinden zu bewältigen. Moscheegemeinden werden aber nicht wie Kirchen vom Staat anerkannt und unterstützt.

Dafür müsste „der“ Islam zuerst als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt werden, was aufgrund der beschriebenen Vielseitigkeit schwierig ist. Nicht der eine Islam, aber viele seiner Facetten sind Teil der deutschen Gesellschaft und somit unserer Kultur. Ob ein einzelner Islam oder überhaupt eine weitere, vom Staat anerkannte Religionsgemeinschaft wünschenswert ist, bleibt fraglich. Diskutiert werden sollte, ob nicht sämtliche Religionen ins Private gehören. Vor der Herausforderung, den Islam zu modernisieren, stehen die Muslime aber trotzdem. Denn neben der Fiktion von 1001 Nacht gibt es real eben auch 1000 Peitschenhiebe für Raif Badawi.

Zuerst erschienen in trailer 06/15, online unter: www.trailer-ruhr.de

Rezension zu „Unsagbare Dinge“ (Laurie Penny)

Wer die aktuelle Debatte und die medialen Hass- und Liebeserklärungen zum aktuellen Stand des Feminismus verfolgt, muss erkennen: der Feminismus ist tot.
Die Frauenbewegungen verhalten sich in den letzten Jahren wie der Rest der zunehmend globalisierten Welt: heterogen, pluralistisch und manchmal auch widersprüchlich.

Da es den Feminismus als einheitliche Strömung nicht mehr gibt, wird nach neuen Modellen gefahndet. Die ZDF-Satiresendung „Die Anstalt“ widmete ihre Ausgabe vom 28.4.2015 einer durchaus selbstkritischen Reflextion des eigenen Umgangs mit Frauen(themen), die Nummer 17 der Wochenzeitung „Der Freitag“ unterstreicht mit dem Titelthema „Mir nach, Leute! Der Feminismus ist eine Erfolgsstory. Manche wollen das nicht begreifen“ die gesamtgesellschaftliche Bedeutung des Feminismus und auch choices lieferte im März mit dem Monatsthema FRAUENMENSCHEN eine Bestandsaufnahme.

In diese Richtung geht auch Laurie Penny mit ihrem Manifest „Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution“. Die noch nicht einmal 30-jährige Autorin, Bloggerin und Journalistin schreit uns auf knapp 280 Seiten ein wütendes Pamphlet entgegen, in dem sie persönliche Erfahrungen, politische Entwicklungen, akademisches Wissen und die daraus gezogenen Schlüsse zu größtenteils Polemik verdichtet.

Schon zu Beginn stellt die gebürtige Britin klar: „Dieses Buch hilft euch nicht dabei, einen Mann zu finden, eure Frisur zu richten oder euren Job zu behalten. Dieses Buch handelt von Liebe, Sex, Schönheit und Ekel, Macht, Leidenschaft und Technik.“ Ebenso schnell wird deutlich, dass sich Pennys Kritik nicht pauschal an die üblichen Verdächtigen wie die Medien, den Staat, die Pornoindustrie oder gar an die Männer richtet. Ihr Buch ist im klassischen Sinne kein feministisches Werk, denn Ziel ihrer stilistisch eigenwilligen und von revolutionärem Pathos durchwirkten Attacken ist nicht der Antifeminismus, sondern das kapitalistische System.

Anders als FEMEN oder Alice Schwarzer lehnt sie Prostitution oder Pornografie nicht kategorisch ab. Untypisch ist auch, dass sich Penny als Romantikerin sieht und ein ganzes Kapitel der Liebe und zwischenmenschlichen Beziehungsformen widmet. Als digital native liefert sie zudem ungewöhnliche Einblicke in den Komplex „Sexistische Gewalt im Internet“.

Die Männer oder die „verlorenen Jungs“, denen sie ebenfalls ein eigenes Kapitel zugesteht, definiert sie gleichsam als Verlierer einer paternalistischen Herrschaftsform, die alle Geschlechter unterdrückt. Die nur scheinbar über Frauen herrschenden Männer sind auch nicht die Urheber dieser Gesellschaftsordnung. Durch den ihnen zugestandenen Einfluss werden sie davon abgehalten, Machtverhältnisse, die auch sie selbst an ihrer Entfaltung hindern, kritisch zu hinterfragen. Gleiches gelte verstärkt für alle, die von der heterosexuellen cisgender-Norm abweichen.

Feminismus als Instrument

Dreh- und Angelpunkt ist aber auch für Penny das Frauenbild, das Instrument zur Umsetzung revolutionärer Visionen bleibt der Feminismus. Die großen Fortschritte, die FrauenrechtlerInnen auf dem Terrain von Recht und Selbstbestimmung in den letzten Jahrzehnten erwirkt haben, bewertet sie kritisch. Die Verheißung der Gleichberechtigung richte sich vornehmlich an die Karrierefrau, die sowohl ihr intellektuelles, als auch ihr erotisches Kapital fortwährend im Sinne des Neoliberalismus maximiert und nun alles sein und haben kann: 60-Stunden-Woche, Kinder, Haushalt, Beziehung und anschließendes Burnout.

Für Penny ist diese fortwährend schöne und erfolgreiche Frau „ausnahmslos weiß und fast völlig fiktional.“ Sie verlangt stattdessen eine Stimme für alle Frauen, die von diesem Ideal abweichen, denn generell gelte für Frauen noch immer „Wir haben Objekte des Verlangens zu sein, nicht verlangende Subjekte“. Sexismus ist ihrer Meinung nach immer dann präsent, wenn nur ein Geschlecht betroffen ist. Das zeigt sich ihrer Meinung nach auch bei den medialen Identifikationsangeboten. „Gute kleine Jungs sollen davon träumen, die Welt zu verändern. Gute kleine Mädchen sollen davon träumen, sich zu verändern“.

Mehr Phantasie bitte!

Anders als WELT-Autorin Ronja von Rönne, die Anfang April 2015 unter dem Titel „Warum mich der Feminismus anekelt“ perfekt vorführte, wie man als Wohlstandstöchterchen hedonistisch soziale Gerechtigkeit am eigenen, und nur am eigenen Erfahrungshorizont abmisst, ist sich Penny ihrer privilegierten Stellung durchaus bewusst. Ihr Anspruch ist kein geringerer, als eine bessere Welt für alle sozial Benachteiligten, wenn schon nicht zu schaffen, dann doch wenigstens gedanklich zu antizipieren.

Früher nannte man diese Denkweise übrigens Utopie oder in ihrer unpolitischen Variation die Phantasie von einer besseren Welt. Eine Qualität, an der es der EU-Politik zwischen Ukraine-Konflikt, IS-Terror und Griechenlandkrise – kurz angesichts der vielgestaltigen Anforderungen der Postmoderne – zu fehlen scheint.

Wer „Unsagbare Dinge“ zur Hand nimmt, darf weder eine stringente, noch eine ausnahmslos sachliche Argumentation, einfache Antworten oder klare Handlungsanweisungen erwarten. Der Stil schwankt zwischen poetisch-plakativen Zeilen wie „Der Neoliberalismus kolonialisiert unsere Träume“ und Statements wie „die ideale Frau ist fickbar. Fickt aber nie selber“, die beide im Gedächtnis bleiben.

Neben intimen, autobiografischen Einblicken spricht „Unsagbare Dinge“ gesellschaftliche Probleme aus, die all jene angehen, die sich eine gerechtere Gesellschaft für Frauen und Männer wünschen und das gegenwärtige System nicht als der Weisheit letzter Schluss und schon gar nicht als geeignet für die Anforderungen unserer Zeit empfinden. Am harten Realismus orientiert sich aber Pennys letzter Appell: Vor uns liegt ein langer Weg, der weh tun wird. Fangt an.

Laurie Penny: „Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution“ | aus dem Englischen von Anne Emmert | Edition Nautilus | 283 S. | 2015

Zuerst erschienen auf: www.choices.de

Leitartikel zum Thema GLÜCK

Wir müssen nur wollen

Bei einem Samenerguss werden im Schnitt zwei bis sechs Milliliter Ejakulat ausgestoßen. Von den darin enthaltenden Spermien landen rund 300 Millionen in der Scheide, wiederum nur ein Teil davon nimmt den Hindernisparcours des Eileiters in Angriff. Nur circa 300 erreichen die Eizelle, das macht 0,0001 Prozent der ursprünglichen Suppe. Was das alles mit Glück zu tun hat? Selbst wenn man sonstige, die Fruchtbarkeit beeinflussende Faktoren außen vor lässt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass neues Leben bei einem Akt zustande kommt, gering. Wenn auch größer als die, sechs Richtige im Lotto zu tippen (0,0000064 %). Obwohl mehr Kinder geboren werden als Lottogewinner jubeln, dürfte sich jeder von uns rein qua Geburt ständig als ausgesprochener Glückspilz fühlen.

Aber auch wenn kein Mangel an existentiellen Dingen wie Wasser, Nahrung, Obdach, Kleidung und an sozialen Annehmlichkeiten wie freundschaftlichen, familiären oder sexuellen Beziehungen besteht, hüpft niemand von uns unablässig von purem Glück beseelt durch Gegend. Im Gegenteil. Laut einer Schätzung der WHO wird die depressive Störung 2020 die weltweit zweithäufigste Erkrankung darstellen. Stehen wir in den westlichen Industrienationen auf Kriegsfuß mit dem Glück? Schließlich gilt Deutschland nicht nur als Land der Dichter und Denker, sondern auch als das der notorischen Nörgler.

Nicht wenn man dem World Happiness Report 2015, der am 23.4. in New York vom Earth Institute der Columbia Universität veröffentlicht wurde, glaubt. In Puncto Glücksempfinden steht die BRD auf Rang 26 von 160 Ländern passabel dar. Am glücklichsten sind dem Ranking zufolge die Schweizer, aber auch Westeuropa insgesamt schneidet sehr gut ab, stellt mit Island, Norwegen, Finnland, den Niederlanden und Schweden noch fünf weitere der zehn glücklichsten Staaten. Einen Eindruck unseres nationalen Glücksempfindens vermittelt der Glücksatlas der Deutschen Post von 2014, dessen Datenbasis Umfragen des Allensbacher Instituts und die repräsentativen Erhebungen des Sozioökonomischen Panels (SOEP) bilden, das seit mehr als 30 Jahren Wiederholungsbefragungen in Privathaushalten durchführt und auch „subjektive“ Daten zur Lebenszufriedenheit sammelt. Deutschland befindet sich demzufolge seit vier Jahren auf einem „Zufriedenheitsplateau“, das Ruhrgebiet und Westdeutschland schneiden im guten Mittelfeld ab, hinter dem noch zufriedeneren Norden und vor dem mürrischen Osten.

Abgesehen von der Geografie: Wo finden wir unser individuelles Glück? Natürlich im Internet. Bei der Eingabe des Schlagwortes „Glück“ in den Amazon-Bücherkatalog werden dem Glückssuchenden 31.537 Ergebnisse geliefert. Die Ratgeberliteratur, die mannigfaltige Wege zum ultimativen Glück verspricht, boomt seit Jahren ebenso wie Seminare bei sogenannten Lifecoaches. Rund ums Thema Glück pulsiert eine ganze Industrie, die weniger nach dem „pursuit of happiness“ der Konsumenten, als nach Vermehrung der eigenen Einkünfte lechzt.

Kann uns die Wissenschaft Antworten liefern? Akademisch versucht sich die Glücksforschung seit den 1980er Jahren als empirische Wissenschaft zu etablieren. Der Soziologe Alfred Bellebaum gilt als Pionier des deutschen Forschungszweigs, in deren Teilbereichen sich u.a. Philosophen, Neurobiologen, Soziologen oder Psychologen mit Problemen der Gegenstandsbestimmung, Methodik, Messbarkeit und der Theoriebildung kämpfen. Die US-Journalistin Barbara Ehrenreich ist eine der bekanntesten Kritikerinnen des Teilbereichs der Positiven Psychologie. In ihrem 2009 veröffentlichten Sachbuch „Smile or Die: Wie die Ideologie des positiven Denkens die Welt verdummt“ konstatiert sie, dass das positive Denken das Glück als Mittel zum Zweck instrumentalisiert, um im Sinne des Marktes unser aller Leistungsfähigkeit zu steigern.

So interpretiert, fügt sich das Produkt Glück™ nahtlos in den Kapitalismus ein. Das „Streben nach Glück“ impliziert ja auch die Arbeit, die damit verbunden ist. Glück fällt nicht einfach so vom Himmel, wenn jeder seines eigenen Glückes Schmied ist. Daraus resultiert vielmehr, dass wir alle glücklich sein können – wenn wir uns nur hart genug darum bemühen.

Wie die Schönheit liegt auch das Glück stets im Auge des Betrachters. (Markt)Forschung und Ratgeber können uns nicht sagen, wie glücklich wir sind und auch nicht, wie wir es werden. Fangen wir doch damit an uns gemeinsam darüber zu freuen, dass wir erfolgreich 299.999.999 andere Spermien abgehangen haben, um bis hierhin zu kommen. Wer dann unbedingt noch den Vergleich sucht: Zu den Schlusslichtern im World Happiness Report gehören u.a. die Bevölkerungen Afghanistans und Syriens. Glücklich macht diese Information gewiss nicht, sie regt aber zum Nachdenken an.

Zuerst erschienen in trailer 05/16, online unter: www.trailer-ruhr.de

Interview mit Arnold Voß zum Thema Wohnen

Maxi Braun: Herr Voß, Sie sind in Wanne-Eickel geboren und aufgewachsen, leben seit Jahren aber auch mehrere Monate im Jahr in New York und in Berlin. Kann man das Ruhrgebiet mit den beiden Metropolen vergleichen?
Arnold Voß:
Diese drei großen Städte – ich zähle das Ruhrgebiet dazu, weil ich es als eine große Stadt sehe – sind strukturell zu unterschiedlich, als dass man sie vergleichen könnte. Voraussetzung für das Wohnen in den drei Städten ist vielmehr die Frage, wie man überhaupt wohnen will. Wer in einer Weltstadt wohnen will, muss nach New York. Berlin ist keine Weltstadt, könnte es irgendwann werden, spielt aber noch in einer anderen Liga. Das Ruhrgebiet wird nie Weltstadt werden. Es hat durch seine Struktur gar nicht das Potential dafür.

Was ist typisch für das Wohnen im Ruhrgebiet?
Typisches Wohnen im Ruhrgebiet kann man nicht auf einen Punkt bringen. Typisch ist das Ruhrtal, aber typisch sind auch die Bereiche im Emschertal. Immerhin gibt es auch vier richtige Großstädte. Verschiedene Sorten von Lebensarten lassen sich innerhalb des Ruhrgebiets befriedigen.Wer eine spezielle Mischung von Großstadt und Land sowie gute Kulturangebote schätzt, ist hier ziemlich gut aufgehoben. Die Lebens- und Wohnqualität ist, wenn man wie gesagt auf die große Weltstadt-Atmosphäre verzichten kann,ausgezeichnet. Dann lebt man hier besser als irgendwo anders, kann sowohl eine dörfliche Lebensweise finden als auch die kulturellen Vorzüge der Großstadt und wirklich schräge Clubs genießen. Man kann im Dorf leben und ist trotzdem schnell in der Stadt. Die Stadtlandschaft ist hier einfach auf den Punkt gebracht.

Und die negativen Seiten?
Der Nachteil liegt in der Erreichbarkeit innerhalb des dispersen Raumes des Ruhrgebiets, der eine ziemliche Ausdehnung hat. Das ist ein Riesenmanko für jemanden, der die Möglichkeiten des Ruhrgebiets wirklich leben will, denn der ist auf ein Auto angewiesen. Aufgrund der Kosten stellt das für die Jüngeren ein Problem dar. Für jede Art von Nachtleben sind das Ruhrgebiet und sein öffentlicher Nahverkehr feindlich. An Parkplätzen mangelt es übrigens auch und an den Autobahnen kann noch Jahre gebaut werden, Dauerstaus werden die Regel bleiben. Im Ruhrgebiet hat man den Stress der großen Stadt, das urbane Angebot reicht da nicht jedem als Kompensation.

Wo wohnt es sich im Ruhrgebiet gut?
Wie in allen anderen Städten existiert eine gewisse Spreizung des Wohnungsmarktes zwischen sehr guten Lagen und sehr schlechten. Auch im Ruhrgebiet gibt es Toplagen, die auch im Weltvergleich als solche gelten. Z.B. in Essen-Bredeney, wo man nah an der Stadt mit ihrer Kultur und Einkaufsmöglichkeiten ist und einen fantastischen Ausblick ins Ruhrtal hat. Im Norden gibt es ebenfalls spannende Lagen, wenn man z.B. an eines der alten Bergwerksdirektorenhäuser käme, das sind richtige kleine Schlösser mit Parks. Aber auch für die Mittelschicht sind in einer schönen alten Arbeitersiedlung bezahlbare Sachen dabei.

Wo will man eher nicht wohnen?
Richtig schlechte Lagen gibt es im Ruhrgebiet, angesichts der großen Agglomeration im Vergleich zu anderen Gegenden der Welt, sehr wenige. Wer jetzt wieder sagt, in Duisburg wäre es so fürchterlich, soll das mal mit der New Yorker Bronx von früher vergleichen. Dann ist es nämlich plötzlich toll in Duisburg. Selbst in Problemvierteln gibt es sehr wohl Wohnqualität. Wer es als schlechte Lage empfindet, wenn viele Migranten an einem Ort wohnen – dem ist ohnehin nicht mehr zu helfen. Die richtig kaputten Gegenden könnten aber noch kommen.

Unter welchen Voraussetzungen?
Das ist das Drama der letzten Jahre. Große Fonds und Mietkonzerne haben Wohnbestände übernommen und zwar in einer Größenordnung, die europaweit Seltenheitswert hat. In den letzten 30 Jahren wurden so viele Wohnungen nur verscherbelt, weil sie in der Weltmarktlage als unterbewertet gelten. Im Ruhrgebiet fing das sogar noch früher an als in Berlin. Als Folge steigen die Mieten, während die Wohnsituation aber nicht besser wird, weil viele dieser Wohnungen in großem Maßstab als Spekulationsobjekte genutzt werden und die Investoren sie vergammeln lassen. Da besteht große Gefahr. Aber auch Eigentümer von Grundstücken mit geringem Verkaufswert am Markt, die selbst kein Geld für Reparaturen haben, lassen ihre Bude oft verrotten, das gibt es jetzt schon im Ruhrgebiet und es wird schlimmer werden.

Braucht man dann nicht Investoren wie die großen Immobilienkonzerne?
Wo die nicht einsteigen ist eben überhaupt kein Investment mehr vorhanden, d.h. insgesamt wird die Wohnsituation schwieriger und schlechter, das ist leider meine Prognose. Ohne rechtzeitige Maßnahmen werden sich auch Slums entwickeln. Damit meine ich nicht heutige Problemviertel, wie in Duisburg und Dortmund, da wird überdramatisiert. Voraussetzung wäre, dass die Städte genügen Geld haben, um dem Verfall entgegenzuwirken, haben sie aber nicht. Ebensowenig wie die Privateigentümer. Dann bleiben nur Privatinvestoren mit Spekulationsinteresse.

Was kann man solchen Spekulanten entgegensetzten?
Sehr wichtig ist die Selbstorganisation der Mieter gegen die großen Mietkonzerne. Wenn das unter entsprechend politischem Druck geschieht und die Städte dabei mitziehen, anstatt den Investoren auch noch in den Hintern zu kriechen, kann man solche Spekulanten unter Druck setzen und denen das Leben zumindest erschweren, wenn es um Mieterhöhungen geht. Das ist eine große Aufgabe. Gegen den Wertverfall von Eigentum am Wohnungsmarkt können die Hausbesitzer allerdings gar nichts tun.

Welche Alternativen gibt es gegen diese Ursache von Verfall?
Da müsste man einen genossenschaftlichen Ankauf von Privatbeständen, eine Art genossenschaftliche Gruppenprivatisierung, erwägen. Das kann und muss auch in Migrantenvierteln passieren. Die Menschen dort haben wenigstens Motivation. Viele Deutsche, auch in den Stadtverwaltungen, reagieren da schockiert, denken: „Jetzt bilden die Migranten auch noch Eigentum.“ Dahinter steckt provinzielles Denken, denn genau das wäre eine Lösung für verschiedene Probleme. Die Migranten würden mehr Verantwortung in „ihren“ Vierteln übernehmen, denn sie haben ein persönliches Interesse, eben weil sie da leben. Hilflosigkeit wird zu einem Problem in solchen Vierteln, wenn eine Struktur der Apathie entsteht und sich alle darin unterstützen, gar nichts zu tun. Mit Mikrokrediten könnte man auch den Geringverdienern unter ihnen den Einstieg erleichtern und deutschen Eigentümern, die nichts mehr tun, die Last zu einem günstigen Kurs abnehmen. Dann sieht das Viertel später eben nicht aus wie eine typisch deutsche Provinz, es würde aber funktionieren.

Trägt die Politik da die Verantwortung?
Eigentumsbildung am Wohnungsmarkt ist grundsätzlich vom Staat zu fördern, mit Muskelhypotheken und der Wiederbelebung der genossenschaftlichen Tradition, die es im Ruhrgebiet ja früher gab. Gruppenbezogene Eigentumsbildung, die nicht nur auf Profit zielt, muss gefördert werden.

Stichwort Tradition und neue Konzepte. Was halten Sie von alternativen Wohnkonzepten?
Zu meiner Studienzeit hat das mit den WGs angefangen, in meiner dritten WG lebten bereits zwei Generationen zusammen, weil es Studenten mit Kindern gab. Wer sich da für innovativ hält sollte in Migrantenviertel gucken, da ist das völlig normal. Viele Deutsche müssen das aber erst wieder lernen, denn es gibt neue Situationen zu bewältigen und es ist gut, dass darüber nachgedacht wird. Für mich wäre wenn überhaupt die Frage der Senioren-WG von Belang, aber ich bin skeptisch, dazu bin ich zu sehr Individualist.

Ist das Ruhrgebiet auch bezüglich neuer Wohnformen spezifisch?
Speziell im Ruhrgebiet verfügen gerade die Älteren über noch mehr Familienrückhalt und kennen eine Art Nachbarschaftstradition, die müssten offen sein für kollektive Wohnformen. Andererseits haben hier viele ältere Menschen noch einen kleinen Garten, warum sollten die jetzt auf Alternativen umsteigen, wie sie in Berlin und München diskutiert werden? Das wird im Ruhrgebiet eher eine marginale Rolle spielen und nicht zu einer Bewegung werden.

Haben Sie einen Lieblingsort im Pott?
Eindeutig das Bermudadreieck, einer der wenigen Orte, wo ich meine Freunde noch zufällig treffe. Oder der Rhein-Herne-Kanal, da fahre ich gerne Fahrrad und die Emscherinseln bezeichne ich als mein privates Long Island. Das Ruhrgebiet war für mich eine prägende Dominante und ist noch immer meine Heimat, mit der ich mich verbunden fühle, und ich habe große Sympathie für die Menschen, die hier leben. Ich fühle mich hier zu Hause.

Das Interview erschien zuerst in trailer 04/15, online unter: www.trailer-ruhr.de

Leitartikel zum Thema FRIEDEN

Frieden schaffen – auch durch Waffen?

„Es befinden sich weltweit über 550 Millionen Schusswaffen in Umlauf. Das heißt, auf diesem Planeten hat jeder zwölfte Mensch eine Schusswaffe. Das führt zu der einen Frage: Wie bewaffnet man die anderen elf?“ So eröffnet Protagonist Yuri Orlov „Lord of War“, einen bitterbösen Spielfilm über den internationalen, illegalen Waffenhandel. Diesen zu verurteilen fällt nicht schwer. Für die Dealer der tödlichen Waren zählt nicht das Motiv, sondern die finanzielle Liquidität der Empfänger.

Schwieriger ist es da, ein Urteil über den legalen Waffenhandel, auch Rüstungsexport genannt, zu fällen. Immerhin ist Deutschland nach den USA und China der weltweit drittgrößte Exporteur von Rüstungsgütern und Kriegsmaschinerie. Die freie Meinungsbildung zur Causa des legalen Waffenhandels wird dadurch erschwert, dass die Entscheidungen über Rüstungsexporte in Deutschland für die Öffentlichkeit nicht transparent sind. Der Bundessicherheitsrat, der sich aus der Kanzlerin und acht weiteren Mitgliedern, darunter Verteidigungs-, Außen-, Finanz- und Wirtschaftsminister zusammensetzt, entscheidet im stillen Kämmerlein über Rüstungsgeschäfte, Parlament und Volk werden danach vor vollendete Tatsachen gestellt. Auch die Klage der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele, Claudia Roth und Katja Keul konnte daran nichts ändern. Am 21.10.2014 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Regierung weiterhin keine Auskünfte über noch nicht genehmigte Rüstungsexporte geben müsse: „Die parlamentarische Kontrolle erstreckt sich nur auf bereits abgeschlossene Vorgänge“, heißt es in Karlsruhe. Diese Klage und die Debatte um fragwürdige Waffengeschäfte haben ihren Ursprung in der Lieferung deutscher Panzer nach Saudi-Arabien – ein Regime, das nicht unbedingt als Bollwerk für die Durchsetzung von Menschenrechten im Nahen Osten gilt. Aber erst am Sonderfall der kurdischen Peschmerga-Kämpfer, die im September dieses Jahres durch die Bundesregierung beschlossen wurde, offenbart sich die eigentliche Krux. Hier geht es nicht nur um eine ökonomische, juristische oder moralische Bewertung, sondern im Kern um die Frage, ob man Frieden überhaupt mit Waffengewalt erzwingen und auch aufrechterhalten soll und kann.

Die Befürworter geben zu bedenken, dass in akuten Situationen manchmal nur noch Waffengewalt das Leben vieler Menschen zu retten imstande ist. Daniel Cohn-Bendit bemerkte vor einiger Zeit in der taz: „Es gibt historische Momente, so traurig das ist, wo Waffen die einzige Möglichkeit sind, um zu überleben.“, überstrapazierte das Argument aber mit dem Zusatz, dass auch der Aufstand im Warschauer Ghetto schließlich Waffen gebraucht habe. Ähnliche Totschlagargumente sind Verweise wie der, dass Nazideutschland kaum ohne Waffengewalt hätte besiegt werden können oder dass gegen Maschinengewehre keine menschlichen Lichterketten und Peace-Fahnen helfen würden. All dies klingt verdächtig nach Waffenlobbyist Wayne LaPierre und seiner Losung: Das Einzige, was einen bösen Menschen mit einer Waffe aufhält, ist ein guter Mensch mit einer Waffe.

Und die Gegner? Deren Argumente klingen längst nicht immer wie von bekifften Hippies. Sie verweisen z.B. auf die Gefahr, dass Waffen in die falschen Hände fallen könnten. Diese ist nicht so buchstäblich zu verstehen wie der Vorfall am 22.10., als eines von 28 Paketen, die US-Militärs über Kobane zur Unterstützung der kurdischen Armee abgeworfen hatten, in die Hände des IS fiel. Die Gotteskrieger kämpfen aber häufig schon mit besseren Waffen, die sie auch auf Militärstützpunkten der irakischen Armee erbeutet haben, die wiederum zuvor von den USA ausgestattet wurde. Ein weiteres Gegenargument ist die Unabsehbarkeit der Folgen, gepaart mit der Langlebigkeit der Waffen. Ob die Kurden beispielsweise ihre Waffen irgendwann artig abgeben oder noch Jahrzehnte für die Durchsetzung der eigenen Interessen damit kämpfen werden, wird sich zeigen. Und ob Deutschland ausgerechnet durch Waffenlieferung seiner Verantwortung gerecht wird oder andere die Drecksarbeit erledigen lässt, liegt im Auge des Betrachters.

Hier Stellung zu beziehen ist also nicht leicht. Sogar Gregor Gysi, dessen Partei ja bekanntlich konsequent gegen Rüstungsexporte ist, stolperte im Sommer über diese Frage. Bei den berechtigten Einwänden sollten wir vielmehr ins Grübeln kommen, ob „Ja“ oder „Nein“ zu Waffenlieferungen, insbesondere in Krisengebiete, überhaupt die einzig richtigen Antworten sind. Vielleicht geht es gar nicht darum, ob man Frieden nur mit oder ohne Waffen schaffen kann, sondern ob uns im 21. Jahrhundert denn wirklich gar nichts Besseres einfällt. Was wir brauchen sind Alternativen, nicht noch mehr Waffen.

Zuerst erschienen in trailer 11/14, online unter: www.trailer-ruhr.de

Krause Kresse im Beet der Beine – Raoul Schrott & Maria Schrader lesen in Essen

Jeder von uns hat schon einmal die intensive Wucht einer sexuellen Begegnung, egal ob in einem flüchtigen Abenteuer oder im intimen, zärtlichen Liebesspiel hautnah erlebt. Zumindest möchte man es jedem wünschen. So lebendig die Erinnerung daran in Bildfetzen, Gerüchen, Geschmack und Gefühlen auch sein mag – körperliche Leidenschaft, gar erotische Anziehung in Worte zu fassen ist schwierig. Das betrifft nicht nur den Dirty Talk, der derb, direkt und im Eifer des Gefechts herausplatzt, wenn man es denn mag. Es sind vielmehr die kleinen Feinheiten, die den Körper des Anderen abtastenden Blicke und inneren Vorgänge der sich steigernden Erregung, bei der uns die Sprache allzu oft versagt.

Dass es aber möglich ist, etwas so heikles wie Erotik sprachlich in Prosa und Poesie zu fassen, will die Reihe „Von Sinnen. Eros und Illusion in der Literatur“, die das Literaturbüro Ruhr bis Anfang November veranstaltet, zeigen. Mit einer Mischung aus Lesung, Rezitation, Musik und dem offenen Dialog wird versucht, der Erotik eine Stimme zu geben.

Bereits die Eröffnungsveranstaltung am 28.8. in Kooperation mit der Essener Zentralbibliothek ist eine pointierte Mischung aus Leselust, Hintergrundinformation und Interpretation. Gerd Herholz, wissenschaftlicher Leiter des Literaturbüros Ruhr, stellt mit Maria Schrader, Insa Wilke und Raoul Schrott die Gäste des Abends vor. Noch bevor Wilke, die sympathisch zurückhaltend und locker durch den Abend führen wird, ihre Mitstreiter vorstellt, setzt Maria Schrader mit der ruhigen, akzentuierten Stimme einer Theaterschauspielerin an. Sie liest aus der deutschen Übersetzung von „Die schlafenden Schönen“ (1960/61) des japanischen Schriftstellers Kawabata Yasunari. Schon der kurze Auszug ist ein gutes Beispiel, wie subtil Erotik und Erregung allein durch die Beschreibung von verstohlenen Blicken, unbehaglichem Schweigen und dem unausgesprochen im Raum Stehenden verbalisiert werden kann.

Maria Schrader ist an diesem Abend für die Prosa des 20. Jahrhunderts zuständig, Raoul Schrott führt durch die erotische Lyrik der Jahrhunderte. Bei der Eröffnung, die den Titel „Hinter durchsichtigen Spiegeln. Ein Abend mit erotischer Literatur“ trägt und unter der beeindruckenden Glaskuppel der Bibliothek stattfindet, soll es nicht um erotische Gebrauchsliteratur gehen. Das meint Lyrik und Prosa, die als geschriebenes Äquivalent zur Pornografie wirken und nur der körperlichen Erregung dienen soll. Vorgestellt werden soll vielmehr die „große“ Literatur, die Erotik zu fassen vermag.

Die Sprache einer solchen Literatur darf nicht schüchtern und verklemmt sein, ebenso wenig wie derjenige, der sie vorträgt. Dafür ist Schrott der richtige Mann. Der Sprach- und Literaturwissenschaftler und Schriftsteller, der 2007 mit Thesen zu Homer und Troja polarisierte, kennt sich aus mit der Geschichte der Lyrik. Er startet mit einem Gedicht aus sumerischer Zeit, auf Sumerisch versteht sich. Einen niederländischen Akzent möge man ihm verzeihen, schließlich habe er sein Sumerisch bei einem Leidener Professor erlernt. Auch Humor kann anziehend und somit hoch erotisch sein.

Bei der deutschen Übersetzung des überhaupt ersten überlieferten Gedichts aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. stand Raoul laut eigener Angabe vor einem Problem, das typisch für die erotische Literatur insgesamt ist: die Benennung der Geschlechtsorgane. Während die Italiener diese phantasievoll beispielsweise mit „Erbschen“ sprachlich liebkosen, hat ausgerechnet die Sprache der Dichter und Denker heutzutage nur Ausdrücke parat, die schnell derb und hässlich klingen.

Doch wie findet man eine treffende Übersetzung für die Vagina, die die Sumerer streng wörtlich übersetzt als „Salat“ bezeichneten, in dem der DupDup-Vogel pickt? Wenig metaphorisch ist von dem Acker und der Furche die Rede, da wächst „krause Kresse im Beet der Beine“ und der erwähnte DupDup-Vogel meint die Klitoris. Auch 1750 Jahre später werden Schwung und Rundungen der weiblichen Gestalt, der weichen Schenkel, der goldenen Haut der Arme beschrieben. Aber schon hier sind die trivialen Konflikte, die unüberwindbaren Gegensätze zwischen den Geschlechtern auffällig: „Willst du jetzt aufstehen und Bier trinken gehen?“ fragt enttäuscht die Frau, als der Geliebte sich unter Vorwänden davonzuschleichen versucht, während sie ihr Laken für ihn aufschlägt und ihren Schoß entblößt, schon 1250 v. Chr.

Dergestalt geben die Passagen, die Schrott durch spannende, prägnante Geschichten in einen historischen, literaturgeschichtlichen Kontext einzubetten weiß, Aufschluss über den Wandel der sozialen Geschlechterrollen. Die weibliche und männliche Stimme, zur Zeit der Ägypter noch gleichberechtigt zu vernehmen, weicht laut Schrott der Frauenfeindlichkeit der antiken Griechen („Die schlechte Ehefrau ist dem Mann eine Krankheit, die nicht zu kurieren ist“), obwohl deren Literatur so reich an überirdisch schönen Göttinnen, Musen und Nymphen war. Erstickt werden die weibliche Sexualität beziehungsweise deren künstlerische Ausdrucksformen dann spätestens mit Aufkommen der monotheistischen Religionen, bei denen eine gewisse Körperfeindlichkeit und fromme Unschuld ja zum guten Ton gehört.

Die Stimme weiblicher Lust ist erst wieder im 20. Jahrhundert zu vernehmen. Nach einer so langen Zeit der Repression kommt diese ziemlich heftig daher, was Insa Wilke zu Elfriede Jelinek und ihrem 1983 veröffentlichten Roman „Die Klavierspielerin“ führt. Maria Schrader erspart uns den genitalen Rasierklingen-Horror und liest eine kurze Passage, die Erika Kohut auf die Praterwiesen führt, um ein Paar beim Sex zu beobachten. Das schnaufende, keuchende Paar „fickt sich in Erikas Augäpfel“, sie nimmt die klassisch männlich konnotierte Perspektive des Voyeurs ein. Der Kampf der Geschlechter wird in „Die Klavierspielerin“ in einer Person ausgefochten, so meint zumindest Wilke. Wer den Roman nicht kennt, wird dies allein anhand des vorgetragenen Auszugs nicht feststellen können. Die eindringliche und zugleich nüchterne Stimme Schraders ist trotzdem ein Erlebnis. Weit entfernt meint man das Vibrieren des tief verdrängten Verlangens von Erika zu spüren, fühlt Wiese und Laubgrund der Praterwiese unter den eigenen Fußsohlen schmatzen.

Erotik, Begehren und sexuelles Verlangen gibt es nicht nur zwischen Mann und Frau, sondern auch in homoerotischer Form. Es passt zu der offenen Konzeption der Reihe und der lockeren Atmosphäre der Eröffnung, dass auch die homoerotische Literatur präsentiert wird. Der französische Schriftsteller Jean Genet beschäftigte sich wie Pier Paolo Pasolini mit den Subalternen, von der Gesellschaft geächteten, schilderte nicht nur homosexuelle, sondern auch sadomasochistische Szenen. Dabei ging es ihm laut Wilke nicht um den Skandal und die Verherrlichung von Gewalt, sondern auch um die Entdeckung der Zärtlichkeit zwischen Männern. Gelesen wird aus seinem 1947 erschienenen Werk „Querelle“. Bei Nacht kommen sich auf einem von Nebel verhangenen Kai Matrose Querelle und Polizist Mario näher, bis Querelle die stramme Erektion des Polizisten in den Händen hält. Schraders weibliche Stimme verstärkt den Eindruck einer zärtlichen Begegnung. Der Speichel an Querelles Ohr und der Zungenkuss, bei dem er wie in einen Hohlraum voller Granit vorstößt, machen aber auch eine rohe Sexualität, für die es Anziehung, aber nicht zwangsläufig Liebe braucht, nachvollziehbar.

Abschließend richtet Wilke die Frage an Schrott, mit dessen beiden erotischen Gedichten der Abend ausklingen wird, ob es besonders schwer sei, erotische Literatur zu verfassen. „Nicht schwerer als alles andere auch“ entgegnet Schrott. Neben offensichtlichen Problemen wie dem bereits erwähnten Manko der deutschen Sprache, wohlklingende Namen für die Geschlechtsorgane zu finden, sei vor allem die Haltung entscheidend. Schrott subsumiert diese auf folgende Formel: Ein in die Liebe Verliebter wie Don Juan sucht die Eine in den verschiedenen Frauen, während der Dichter in der Einen die verschiedenen suche.

Ein gelungener Auftakt zur Lesereihe, die noch bis 3. November in verschiedenen Ruhrgebietsstädten teils bilateral und interkulturell mit spannenden Gästen fortgesetzt werden wird. Das sich hervorragend ergänzende Trio wirkte tatsächlich anregend, wenn auch eher geistig als körperlich und machte dennoch Lust, sich schleunigst ins Bett zu verziehen: und zwar mit einem guten Buch.

Zuerst erschienen auf: www.trailer-ruhr.de