Somebody’s gotta do the job: Sex wollen alle, Verhütung ist aber noch immer Frauensache

Hitzige Debatten werden um die Gleichberechtigung im Berufsleben geführt, wenn es z.B. um die Vereinbarkeit von Kindern und Karriere geht. Doch während die Väter hier stärker partizipieren sollen und wollen, scheinen die Herren der Schöpfung beim Thema Verhütung nur dabei, statt mittendrin zu sein. Blickt man auf die Geschichte der Verhütungsmethodik des letzten halben Jahrhunderts zurück, liest sich diese zunächst wie die Fabel eines weiblichen Befreiungsschlages: beginnend mit der Zulassung der Anti-Baby-Pille 1960, fortgesetzt durch die Fristenregelung des Abtreibungsgesetzes Mitte der 1970er und ergänzt um die rezeptfreie Zulassung der „Pille danach“ durch die EU-Kommission Anfang 2015. Diese medizinischen Innovationen und gesetzlichen Liberalisierungen verschaffen Frauen mehr Souveränität über ihren Uterus, sind sinnvoll und fortschrittlich. Frauen haben aber nicht nur die Kontrolle, sondern tragen auch die Pflicht zur Verhütung meist allein, gerade in festen Beziehungen.

Laut einer Online-Umfrage der Zeitschrift Men’s Health 2014 wollen zwar 30 % der befragten Männer die Verhütung nicht der Frau allein überlassen, für mehr als die Hälfte (55 %) ist aber die Pille das Mittel „ihrer“ Wahl. Auch eine Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zum Verhütungsverhalten, die 2011 unter sexuell Aktiven zwischen 18 und 49 Jahren durchgeführt wurde, spricht dafür. Mehr als die Hälfte der Befragten beiderlei Geschlechts gaben die Anti-Baby-Pille als favorisiertes Verhütungsmittel an. Der männliche Wunsch nach Eigenverantwortung scheint vorhanden, besteht aber hauptsächlich darin, dass frau die Pille nehmen möge. Zu der subjektiv empfundenen Ungerechtigkeit kommen bei immer mehr Frauen medizinische Bedenken. Die hormonelle Verhütung greift aggressiv in den natürlichen Zyklus ein, kann starke Nebenwirkungen verursachen und über ein erhöhtes Krebsrisiko in Verbindung mit der Pille streitet die Medizin seit Jahren. In stark frequentierten Foren wie dem des Online-Frauenmagazins gofeminin häufen sich zudem Einträge zur Unverträglichkeit der Pille und der Wunsch nach natürlichen Alternativen nimmt zu. Biotrendwende und Hormoncocktail passen eben schlecht zusammen.

Doch was könnten Männer tun? Aktiv bleibt ihnen tatsächlich nur das Kondom oder die unumkehrbare Sterilisation, wollen sie nicht allein in das verantwortungsvolle Verhütungsverhalten der Frau vertrauen. Vorerst wird sich daran auch nichts ändern, das WHO-Forschungsprojekt für die Spritze für den Mann wurde bereits 2011 eingestellt. Die Gleichberechtigung ist, was Verhütung betrifft, noch am Anfang. Hier sollte die Medizin neue Wege finden – oder zumindest danach suchen. Bis dahin muss die Mehrheit der Männer vermutlich zunehmend mit Kondomen leben (lernen), denn sonst bleibt ihnen künftig vielleicht nur das einzige, 100% sichere Verhütungsmittel: die Enthaltsamkeit.

Zuerst erschienen unter: www.choices.de

Rezension zu „Das Leben der Mächtigen“ (Zora del Buono)

Der Titel „Das Leben der Mächtigen“ klingt pathetisch. Das weckt Assoziationen von überlebensgroßen Herrschern, Despoten in Antike, Mittelalter und Neuzeit. Der Mensch ist in dem Buch der Architektin und freien Autorin Zora del Buono aber nur eine Randnotiz. Denn sie hat, so verrät der Untertitel, „Reisen zu alten Bäumen“ in Europa und den USA unternommen. Darunter sind die ältesten, höchsten, dicksten Exemplare. Manche sagenumwogen und berühmt, andere zu ihrem eigenen Schutz anonym und ungekennzeichnet, in tiefen Wäldern vor den neugierigen Augen, Bohrern und Sägen übereifriger Baumjäger und Wissenschaftler versteckt.

Vierzehn besondere Bäume hat die Autorin im Verlauf eines Jahres unter teils schwierigen Bedingungen ge- und besucht, sie tragen Namen wie „Lady Liberty“, „Old Tjikko“ oder „Dicke Marie“, jedem widmet sie ein eigenes Kapitel. Ihre Faszination für die Samenpflanze überträgt sich bei der Lektüre schnell, beispielsweise in der Geschichte des mit 390 Jahren noch jungen Bonsais mit Namen „Hiroshima Survivor“: Seit sechs Generationen in Familienbesitz, überlebt er den Bombenabwurf 1945 drei Kilometer vom Explosionszentrum entfernt und landet in den 1970ern als Geschenk an den Präsidenten im Washingtoner Arboretum.

Die meisten Exemplare sind aber weniger mobil. Seit mehr als 5000 Jahren trotzt eine langlebige Kiefer in den Kalifornischen White Mountains widrigstem Wetter, seit gar 9550 Jahren hält sich eine unscheinbare Fichte in einem schwedischen Nationalpark. Der Riesenmammutbaum „General Sherman Tree“ wiederum ist zwar „nur“ 2200 Jahre alt, aber mit über 80 Metern so hoch, dass in seiner Krone ein eigener Mikrokosmos lebt, für dessen Bewohner der Baum ein ganzes Universum ist.

Auch wenn die Lebensspanne des Homo Sapiens im Durchschnitt dem einer Birke entspricht – eine der kurzlebigsten Baumarten – können auch einzelne Menschen binnen weniger Momente das Schicksal eines jahrtausendealten Baumes besiegeln. Das beweist das Abfackeln einer 3570 Jahre alten Sumpfzypresse in Florida. Für die AnwohnerInnen ist das übrigens ein klarer Fall von Mord.

Wieder andere Exemplare haben trotz der Nähe zum Menschen Jahrtausende überdauert und wurden stumme Zeugen menschlicher Historie. Einige sind Legenden, wie die „Kastanie der hundert Pferde“, unter der eine sizilianische Königin es mit 100 Kavalleristen getrieben haben soll. Andere sind Orte menschlicher Tragödien. Zu den Füßen der Lebenseiche in Virginia wurden im 17. Jahrhundert Sklaven ermordet, eine Sommerlinde im Hessischen Schenklengsfeld ist eng mit der Geschichte der Juden und Jüdinnen des Dorfes zur Zeit des Nationalsozialismus verbunden.

Del Buono recherchiert akribisch, wenn auch ohne geschichtswissenschaftlichen Anspruch die historischen Ereignisse und kulturell geprägten Mythen, die in Verbindung mit den Bäumen stehen. Sie lässt Anekdoten und skurrile Persönlichkeiten einfließen, die sie im Verlauf ihrer Reise getroffen hat. Botanische Fakten und neue Erkenntnisse in der Baumkunde flicht sie geschickt ein. Dazu gesellen sich ein ästhetisches und ein emotionales Interesse, für die LeserInnen in poetisch-haptischen Beschreibungen und fotografischen Porträts der Bäume festgehalten. Jedem einzelnen Baum nähert sie sich so buchstäblich und im übertragenen Sinn mit Respekt und manchmal auch mit Staunen.

Wer jetzt schon Alexandras Schlager „Mein Freund der Baum“ trapsen hört, kann unbesorgt sein. Mit esoterischem Baum-Umarmen hat das nichts zu tun. Del Buono vermittelt Ehrfurcht vor der Natur und diesen besonders langlebigen Wesen. „Das Leben der Mächtigen“, mit denen eben nicht die Menschen gemeint sind, erzählt von Lebensformen, die schon vor der Menschheit die Erde bevölkerten und vermutlich noch existieren werden, wenn wir längst wieder von der Bildfläche verschwunden sind. Und wäre das wirklich so schlimm? Denn viele Bäume, wenig Menschen – das macht den Wald so schön.

Zora del Buono: Das Leben der Mächtigen. Reisen zu alten Bäumen | Matthes & Seitz Berlin | 147 S. | 32 €

Zuerst erschienen auf: www.choices.de

Fachaufsatz zu Sergej Eisensteins „Oktober“

Die nie überwundenen Barrikaden:
Oktober (1927) als Quelle zur Konstruktion des Mythos der russischen Revolution von 1917
Ein Kanonenschuss ertönt, Schüsse illuminieren die Dunkelheit und hallen durch die Nacht. Die Massen stürmen furchtlos voran, überwinden Barrikaden und dringen weiter Richtung Palast vor, um diesen in einem heroischen Kampf auf Leben und Tod einzunehmen.
Diese berühmte Sequenz der Erstürmung des Winterpalastes aus Sergej Eisensteins Film Oktober – Zehn Tage die die Welt erschütterten, wie der deutsche Titel des Films in Anlehnung an den Erlebnisbericht John Reeds lautet,
lieferte 1927 die Bilderbuchversion einer Revolution. Dass seine Visualisierung des Oktobers 1917 nicht mit den historischen Ereignissen übereinstimmt, darüber ist sich die Geschichtswissenschaft längst einig.
Wird ein Propagandafilm als wahrheitsgetreue Aufzeichnung historischer Ereignisse ausgegeben, finden das die dem Medium Film gegenüber ohnehin schon oft skeptischen professionellen HistorikerInnen natürlich wenig überzeu-
gend, wenn nicht gar lächerlich. Eisensteins Film als bloße Propaganda abzutun und gar nicht erst als historische Quelle in Betracht zu ziehen,wäre jedoch nichtsdestotrotz ein Verlust.
Eine Quelle ist dieser Film indes weniger für den Oktober 1917 in Russland als vielmehr für den historischen Kontext, in dem er entstand. Die Art und Weise, wie die Oktoberrevolution hier inszeniert wurde, gibt Aufschluss darüber, wie dieses Ereignis in der offiziellen Erinnerungskultur tradiert werden sollte, auf welche Art der Mythos einer glorreichen Revolution konstruiert wurde und nicht zuletzt, wie sich die Bolschewiki selbst sahen oder von der Bevölkerung und der Nachwelt wahrgenommen werden wollten…
Den vollständige Text  ist hier erschienen: WerkstattGeschichte 60 (2012)

Sex and the City in Accra: Die Webserie „An African City“

Sadé, Ngozi and Zainab, drei der fünf Protagonistinnen der 2014 gestarteten Webserie „An African City“, sitzen im Restaurant. Ngozi, gläubige Christin und Nesthäkchen der Gruppe, hat ein Blind Date mit drei Männern arrangiert. Der lahm laufende Small Talk kommt auf das Berufliche. Geschäftsfrau Zainab erzählt von einer Präsentation, bei der es auch um den Gebrauch von Kondomen ging. Die Männer sind überrascht: „Why you use condoms? You look clean?“…

Zum vollständigen Text unter: www.missy-magazine.de

Diskussion zu „Rassismus und Sexismus: Intervention“ in Bochum

Seit den Vorfällen, die sich in der Silvesternacht 2015 in Köln ereigneten, ist „nach Köln“ zu einer Chiffre geworden. Wer über sexualisierte Gewalt, Frauenrechte oder allgemein über Feminismus spricht, wird früher oder später mit ihr konfrontiert. Die große Aufmerksamkeit galt und gilt aber nicht den Opfern oder dem Missstand sexualisierter Gewalt an sich. Das mediale Interesse verbiss sich früh in die Herkunft der Täter, Islamkritik und die Angst vor dem „nordafrikanisch aussehenden Mann“. „Besorgte Bürger“, PEGIDA-Anhänger und die AfD, „vor Köln“ nicht gerade für ein modernes Frauenbild bekannt, schrieben sich begeistert Frauenrechte auf die schwarz-rot-goldene Flagge.

Die Zuspitzung der öffentlichen Debatte, die bis heute mit rassistischen Vorurteilen und Diskriminierungen geführt wird, war laut Laura Chlebos von der Initiative Feminismus im Pott der Anlass für die Veranstaltung „Rassismus und Sexismus: Intervention“, organisiert gemeinsam mit der medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum und dem Bahnhof Langendreer.

Ergänzt wird das Podium durch Menschen, die die persönliche Erfahrung von Mehrfachdiskriminierung – etwa als Flüchtlingsfrau, Woman of Color oder Muslimin – gemacht haben. Neben Madeleine Mwamba von „Women in Exile & Friends“ ist Antonia Schui, die sich seit fünf Jahren als solidarische Aktivistin ohne Fluchthintergrund bei den Friends engagiert, eingeladen. Erweitert wird die Runde um Emine Aslan und Hengameh Yaghoobifarah, beide Mitverfasserinnen des Aufrufs #ausnahmslos, der noch im Januar 2016 mit dem Anspruch „Gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus. Immer. Überall.“ veröffentlicht wurde.

Die Instrumentalisierung von sexualisierter Gewalt zur Bestätigung rassistischer Vorurteile einerseits und die kaum thematisierten Übergriffe auf Flüchtlingsfrauen, Women of Color oder Musliminnen andererseits sollen im Kontext der Kölner Debatten diskutiert werden.

Bianca Schmolze von der medizinischen Flüchtlingshilfe, die u.a. psychotherapeutische Hilfe für Flüchtlinge und Folteropfer anbietet, eröffnet die Diskussion schon in der Vorstellungsrunde mit klaren Worten. „Seit der Silvesterdebatte ist uns die Galle hochgekommen. Dass das Asylrecht verschärft worden ist, finden wir eklig“, bezieht sie klar Stellung.

Wut und leidenschaftlicher Wille zu gesellschaftlicher Veränderung sind auch Madeleine Mwamba anzumerken. Die ursprünglich aus Kamerun stammende Aktivistin stellt mithilfe einer Dolmetscherin die Arbeit von Women in Exile dar. Seit 2002 besuchen die Aktivistinnen Flüchtlingsheime und dokumentieren dortige Missstände. Mangelnde Privatsphäre selbst in den sanitären Anlagen oder sexuelle Übergriffe gehören zum Alltag der in den Heimen untergebrachten Frauen.

Berichtet wird darüber kaum, eine breite Empörung wie angesichts der Übergriffe an Silvester scheint gar undenkbar. Die sexuellen Übergriffe, die Flüchtlingsfrauen aus einem Heim in Köln Gremberg im Februar öffentlich gemacht hatten, sind wieder in Vergessenheit geraten. Erkennbare Konsequenzen für die Täter gab es nicht, dafür wurde die Ehrlichkeit der Opfer umso mehr in Frage gestellt.

„Ein öffentlicher Brief, den wir sehr vielen Medien zugespielt haben, wurde meines Wissens nach nirgendwo veröffentlicht“, stellt Antonia Schui resigniert fest. Für Madeleine Mwamba lautet das Ziel von Women in Exile daher nach wie vor: „Keine Lager für Frauen und Kinder! Alle Lager abschaffen! Hört auf, Diskriminierung und Rassismus mit Frauenrechten zu legitimieren.“

Selber Sturm, anderes Boot

Zu einer anderen Gruppe, die sich mit Mehrfachdiskriminierung auskennt, gehört die Aktivistin Emine Aslan, Muslimin ohne Fluchthintergrund. Mit #SchauHin, einer Plattform, die Alltagsrassismus sichtbar machen will und anderen Projekten unterstützt sie junge Muslime und Musliminnen dabei, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Frauen, die einer Ethnie oder Religion angehören, die in Deutschland eine Minderheit ist, sind anders von Rassismus und Sexismus betroffen. „Wir sind im selben Sturm, aber in unterschiedlichen Booten“, veranschaulicht Aslan. „Wir schauen nur hin, wenn ‚weiße‘ Frauen belästigt werden und stellen gleichzeitig die muslimische Community unter Generalverdacht. Die Stimmung wird – auch nach den Terroranschlägen in Paris und Brüssel – ängstlicher. Die Menschen sehen dann auch mich als Teil eines Phantasiekollektivs. Das ist ein Klima, in dem Rassismen legitimer werden.“

Auch abseits von Belästigung oder Gewalterfahrungen erleben muslimische Frauen Sexismus anders. „Ihr beschäftigt euch mit dem Gender Gap beim Gehalt, ich frage mich, ob ich mit meinem Kopftuch überhaupt einen Job bekommen werde“.

Sexualisierte Gewalt an Frauen vor „Köln“

Hengameh Yaghoobifarah, Bloggerin und freie Journalistin u.a. für das Missy Magazine, erweitert die Runde noch um eine weitere Gruppe: alle Frauen, die auch schon vor Köln die Erfahrung sexualisierter Gewalt gemacht haben. „Es ist ja nicht so, als wären wir nicht schon früher mit ungutem Gefühl durch die Straßen gelaufen. Die Bedrohung oder das Gefühl der Angst gab es für Frauen auch davor schon.“

Dass es sich dabei nicht nur um ein Gefühl handelt, bestätigt die Statistik. Laut einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“, die sich auf die erste repräsentative Umfrage zum Thema aus dem Jahr 2003 bezieht, sind Formen sexualisierter Gewalt in Deutschland schon lange weit verbreitet.

13 % der in Deutschland lebenden Frauen sind schon einmal Opfer sexueller Nötigung oder Vergewaltigung geworden, sexuelle Belästigung haben 58 % der Frauen erfahren. Die Umfrage fand nicht nur vor dem Höhepunkt der Migrationsbewegung statt. Die Täter waren mehrheitlich (Ex-)Beziehungspartner, Familienangehörige, Nachbarn oder Kollegen, nicht der „nordafrikanisch aussehende Mann“.

All diese Erfahrungen sind in die zahlreichen Interventionen „nach Köln“ eingeflossen. Aber was bewirken diese letztlich und wie könnte man die Verbindung von Sexismen und Rassismen besser sichtbar machen und bekämpfen?

Antonia Schui appelliert an die Gründung eigener Projekte, während Emine Aslan fordert, dass Aktivistinnen auch realpolitisch wirken sollen: „Wir brauchen professionelle Lobbyarbeit für Feminismus und Antirassismus“. Hengameh Yaghoobifarah rät dazu, das eigene Engagement zu reflektieren. „Ein Turnbeutel mit Refugees Welcome-Logo ist zwar schön, aber was habe ich konkret bewirkt? Geht auf Demos, macht was in politischen Gruppen.“

In der abschließenden Publikumsdiskussion wird die Frage an Emine Aslan gerichtet, was für eine Berichterstattung sie sich nach Köln gewünscht hätte. Sie erwiedert „Ich wünschte, wir hätten die Gelegenheit genutzt, eine Debatte zu führen, die allen Opfern sexualisierter Gewalt Gehör verschafft.“

Trotz des großen Interesses an diesem Abend bleibt der Eindruck, dass hier wieder nur die, die ohnehin einer Meinung sind, miteinander ins Gespräch kommen. Kristin Schwierz vom Bahnhof Langendreer bringt diese Resignation abschließend auf den Punkt: „Die Situation mag deprimierend sein. Aber es hilft ja nichts. Wir müssen gemeinsam weiterkämpfen.“ Für die Sicherheit von Frauen in Deutschland, egal welcher Herkunft, welcher Ethnie oder Religion sie angehören mögen.

Zuerst erschienen auf: www.trailer-ruhr.de

NRW-Wettbewerb der Kurzfilmtage Oberhausen 2016

NRW ist ein weites Bundesland. Knapp 18 Millionen Bewohner finden darin Platz, geografisch streckt es seine Fühler sowohl in die Republik, als auch nach Belgien oder in die Niederlande aus. Es beinhaltet mit dem Ballungsraum der Rhein-Ruhr-Region eine der größten Metropolregionen der Welt und 29 von 77 Großstädten Deutschlands. Wenig verwunderlich, dass die Kultur- und auch die Filmszene hier äußert vital und vielseitig ist.

Im NRW-Wettbewerb konkurrierten 2016 zwölf in Sujet, Genre und Ästhetik sehr unterschiedliche Werke um die Preise. Zwei Preise vergab die Jury (bestehend aus Florian Deterding, Leiter der Düsseldorfer Black Box, Andreas Heidenreich, Vorsitzender des Bundesverbands kommunale Filmarbeit und der Kuratorin Sylke Gottlebe), den Publikumspreis kürte die West ART-Zuschauerjury.

Zu der Kategorie der im weitesten Sinne dokumentarischen Filme zählte „Erfrischt einzigartig“ von dem in Dortmund lebenden Kameramann und Filmemacher Johannes Klais. Neben Trinkhallen sind auch Kaugummiautomaten ein aussterbendes Markenzeichen des Ruhrgebiets, denen Klais in seinem Film nachspürt. Dabei streift er Themen wie die soziale Verödung von Innenstädten und ganzer Stadtviertel durch den Abbau von Arbeitsplätzen und Verdrängung von Einzelhändlern, bis nur noch der Metzger übrig ist und von der guten, alten Zeit erzählt. Ein Film mit sympathischem Galgenhumor, bei dem Assoziationen an die Oberhausener Marktstraße leider nicht abwegig sind.

Ebenfalls sozialkritisch, aber filmisch weniger puristisch ist „Ein Aus Weg“ von Simon Steinhorst und Hannah Lotte Stragholz. Von einem Seelsorger in einer JVA befragt, erzählt der Kleinkriminelle Alex K. von seinem Leben zwischen Normalität und Drogendelikten. „Ich mache halt, was ich gut kann und das ist klauen“ berichtet er nüchtern, schwärmt aber auch von seiner Freundin und  träumt von einem Leben jenseits der Gitterstäbe. Im Kontrast zu der sachlichen Dialogebene stehen die farbenfrohen und teilweise verträumten Animationen von Hannah Lotte Stragholz. Die West ART-Zuschauerjury vergab dafür einen mit 750 Euro dotierten Preis.

Auch der Förderpreis im NRW-Wettbewerb und 500 Euro Preisgeld gingen an einen animierten Film. In „Das Leben ist hart“ bringt Regisseur Simon Schnellmann mit simplen Strichen diese Weisheit auf den Punkt. In fünf sketchartigen Episoden trifft er mit einfachsten Mitteln den Humor des Publikums, auch wenn einige danach niemals wieder arglos an einem Eis lecken werden.
Aber auch die animierte Fabel „Ginko & Kinko“ von Jie Lu, die schon 2012 mit dem surrealistisch angehauchten „Ein Schuh geht barfuss“ in Oberhausen zu Gast war, berührte den Bertachter. In schattenspielartigen Bildern in Schwarz und Rottönen erzählt die gebürtige Chinesin Lu von dem alten Ginko und seinem Sohn Kinko und zeigt, dass Glück und Unglück oft nah beieinander liegen.
Überzeugen konnten wie so oft im NRW-Wettbewerb aber auch die narrativen Werke mit Spielfilmcharakter. Momentaufnahmen einer Coming of Age-Story am Ende eines Schweizer Sommers zeigt „J’ai tout donné au soleil sauf mon ombre“ (I Gave Everything to the Sun, Except My Shadow) von Valérie Anex und Christian Johannes Koch. Eine junge Frau hinterfragt ihre Beziehung: Ist es Liebe? Oder nur Sex? Sprachlosigkeit statt offenbarter Gefühle drücken sich in kunstvoll komponierten und dennoch intimen Bildern aus, über die sich eine Ahnung von Abschied und Aufbruch legt.

Erzählerisch stark ist auch Christian Beckers und Oliver Schwabes „Der Bruder“. Eine leer stehende Kaserne auf dem platten Land. Ein Mädchen versteckt sich und ihren autistischen Bruder. Warum und wie lange schon, weiß niemand. Ein Vater sucht beide, eine Polizistin findet sie. Während er sich mit der neuen Situation arrangiert und barfüßig seine neue Umgebung erkundet, liegt in ihrem krampfhaft Normalität suggerierendem Verhalten eine schwere Last. Wovor ist sie weggelaufen? Warum hat sie ihn mitgenommen? Wie soll es weiter gehen? Diese Zeitblase der Ungewissheit platzt mit einem unerwarteten Ende auf.

Atmosphärische Bilder aus der Provinz Westfalen um 1873 generiert „Der einsame Hof“ von Christian Zipfel. Eine Viehherde wird geklaut, eine Tochter geschwängert und die Ernte verdirbt. Das alles in westfälischer Mundart in Schwarz-Weiß-Bildern voller Verzweiflung und ohne Happy End. Schlimmer kann es den Pilgervätern Amerikas auch nicht ergangen sein.

Den mit 1.000 Euro dotierten Preis für den besten Beitrag des NRW-Wettbewerbs vergab die Jury mit „Ocean Hill Drive“ von Miriam Gossing und Lina Sieckmann aber an eine experimentelle Arbeit, produziert von der KHM Köln. Eine Frauenstimme aus dem Off führt uns durch ihr Haus in Massachusetts und durch die Umgebung. Die eingerichteten Räume voller persönlicher Dinge sind menschenleer und auch ein Flickereffekt stört immer wieder das Bild, die Szenerie wirkt unheimlich. Doch kein Geist oder ein anderes übernatürliches Phänomen ist dafür verantwortlich, sondern eine falsch installierte Windkraftanlage. In der Begründung lobte die Jury Film und Macherinnen für den „Sog, der die Spannung zwischen Surrealistischem und Dokumentarischem hält“ und für die „Aussagekraft ihrer Bilder, die eine feinsinnige Verbindung mit der Tonebene eingehen“.

Die beiden Programme des NRW-Wettbewerbs, seit 2009 Bestandteil der Kurzfilmtage Oberhausen, sind mittlerweile kein Geheimtipp mehr. So sieht es auch Juror Andreas Heidenreich, der 2016 zum zweiten Mal Teil der insgesamt drei Jahre amtierenden Jury war. „Man hat sich inzwischen an das durchweg hohe Niveau im NRW-Wettbewerb gewöhnt“, sagte er im Rahmen der Preisverleihung am 10.5. in der Lichtburg Oberhausen. Eine Aussage, die für Jury und Publikum gleichermaßen gilt.