Filmkritik: „Beale Street“ verwebt Liebesgeschichte und Justizdrama zu anspruchsvollem Black Cinema.
Die titelgebende Beale Street aus James Baldwins Roman „If Beale
Street Could Talk“ von 1973 befindet sich eigentlich in New Orleans. Sie
steht aber exemplarisch für jede der Schwarz geprägten Nachbarschaften
in den USA und ihr soziokulturelles Gefüge, das Baldwin selbst als eine
Art Vermächtnis der Schwarzen Community bezeichnet. Barry Jenkins’
Filmadaption greift diese Doppeldeutigkeit ebenfalls auf. Denn
einerseits geht es in „Beale Street“ um Alltagsrassismus und die bis
heute fortdauernde strukturelle Diskriminierung von Schwarzen Menschen
in einem weiß dominierten Justizsystem. Andererseits erzählt der Film
die berührende Liebesgeschichte von Tish (Newcomerin Kiki Layne) und
Fonny (Stephan James).
Fonny und Tish. Diese beginnt mit einer gemeinsamen Kindheit, in der eine Freundschaft entsteht, die später zu Liebe wird. Jenkins inszeniert diese behutsame Annäherung und erste Phase des Verliebtseins mit langen, ruhigen Einstellungen in den satten Farben des New Yorker Sommers und Herbstes, gedreht an Originalschauplätzen in Harlem. Diese Episoden werden uns aus Tishs Perspektive in Rückblenden erzählt, begleitet von ihrem poetischen bis lakonischen Off-Kommentar. Das Glück ist aber nicht von Dauer: Fonny wird wegen einer brutalen Vergewaltigung verhaftet, die er nicht begangen haben kann. Zur Tatzeit ist er mit Tish und einem alten Freund zusammen am anderen Ende der Stadt. Doch es wiederholt sich ein uraltes Motiv: Das Alibi der eigenen Partnerin und des vorbestraften Freundes zählen auch in den USA der 1970er-Jahre nichts, wenn ein Schwarzer Mann von einem weißen Polizisten belastet wird. Fonny bleibt in U-Haft, während Tish, ihre Familie und Fonnys Vater versuchen, seine Unschuld doch noch zu beweisen.
Mit dem Bauch wächst der Kampfgeist. Zwischen den
erwähnten Rückblenden kehrt die Handlung immer wieder in die Gegenwart
zurück, markiert durch Tishs Besuche im Gefängnis. Eine Orientierung in
den verschiedenen Zeit- und Erzählebenen bietet außerdem Tishs
fortschreitende Schwangerschaft, von der sie kurz nach Fonnys Verhaftung
erfährt. Parallel zum Bauch wächst auch ihr Kampfgeist, und während
Fonny im Gefängnis zur Passivität verdammt verzweifelt, entwickelt sie
sich auf der anderen Seite der Glasscheibe von einem naiven Mädchen zu
einer souveränen und entschlossenen Frau. Die meisten weiblichen Figuren
in „Beale Street“ werden ähnlich stark und selbstbewusst gezeichnet.
Tishs resolute Mutter (Regina King erhielt für ihre Rolle eine
Oscar-Nominierung) reist allein bis nach Puerto Rico, um den
Schwiegersohn zu entlasten, die ältere Schwester ermutigt sie, sich
nicht für ein uneheliches Kind zu schämen. Auch Tishs Vater erkundigt
sich zuerst danach, ob seine Tochter das Kind bekommen will, und ergänzt
sofort: „Denk nicht, du seist ein böses Mädchen! Ich frage nur, weil du
so jung bist.“ Jenkins schildert diesen familiären Zusammenhalt
eindrücklich, getragen von starken Frauen und einem Vater, der Stolz auf
diese Stärke ist. Nicht religiöse oder gesellschaftliche Konventionen
bestimmen hier die Regeln, Solidarität ist das oberste Gebot. Erfreulich
realistisch ist zudem, dass die Schwangerschaft nicht verklärt
dargestellt wird. Hier tritt der Fötus die werdende Mutter auch mal so
heftig, dass ihr die Kaffeetasse aus der Hand fällt.
Präzise sezierter Rassismus. Wer am Ende
Gerechtigkeit erwartet, wird von „Beale Street“ enttäuscht. Die
eigentliche Tragik liegt aber darin, dass sich an dem von James Baldwin
schon vor mehr als vierzig Jahren so präzise dargestellten Rassismus bis
heute nur so wenig geändert hat. Nicht nur eine Beale Street mit all
ihrer lebendigen Dynamik und Problemen gibt es überall in den USA. Auch
Ferguson oder Baltimore stehen exemplarisch für die schlimmsten
Ungerechtigkeiten, die Schwarzen Menschen noch heute an zu vielen Orten
widerfahren. Barry Jenkins gelingt dieser Tragik zum Trotz eine
wunderschön fotografierte und narrativ anspruchsvoll verschachtelte
Geschichte, die thematisch über sich selbst hinausweist. Empowernd ist
das nicht, aber ein berührendes und meisterhaftes Werk des Black Cinema.
Erschienen in: an. schläge 2019, an.sehen, II / 2019 (Print)
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