Die Schnittmeisterin (an.schläge)

Keine österreichische Filmeditorin hat mehr Filme und Serien montiert als Ingrid Koller. Jetzt wird sie in Deutschland für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.

Frauenfiguren die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, muss aber irgendwann doch lachen. Dass der Film Noir mit seinen ironischen Gesangseinlagen und jeder Menge Hardboiled-Klischees heute noch funktioniert, ist vor allem Ingrid Koller zu verdanken. Ihre Montage an „Müllers Büro“ offenbart ihr Können und die Herausforderung des perfekt getimten Komödien-Schnitts.

Dabei war es für sie kein Kindheitstraum, „Filmeditorin“ zu werden. „Niemand will das, weil die meisten gar nicht wissen, was das ist. Selbst die aus der Branche nicht“, lacht sie und atmet hörbar Zigarettenrauch aus. Dabei kann die Bedeutung des Filmschnitts für den fertigen Film kaum überschätzt werden. Anders als viele vermuten, gibt die Regie nicht vor, an welcher Stelle geschnitten wird. Filmeditor*innen sichten das gesamte gedrehte Material, wählen die besten Einstellungen aus und setzen alles zu einer verständlichen Narration zusammen, bei der Spannung entsteht und das Timing von Pointen sitzen muss. 1950 wird Koller in eine filmaffine Familie in Wien…

Erschienen in: an.schläge VII/2021 (Print). Hier geht’s zum vollständigen Artikel.

Ziemlich befriedigende Sache

In der Mini-Serie „Loving Her“ brilliert Banafshe Hourmazdi als lesbische Titelheldin, die Fleabags kleine Schwester sein könnte.

Eine Frau steht in einem kleinen Club auf der Bühne und haucht eine balladige Version von Britney Spears Popsong „Toxic“ ins Mikrofon. Im Publikum beobachtet sie eine Frau mit leuchtenden Augen und lächelt sie an. Ihrem begehrenden Blick folgen wir zurück zur Sängerin. Während diese zärtlich von einem „poison paradise“ singt, verlieren wir uns in einer Nahaufnahme ihres Gesichts, ihrer Lippen, in ihrem hypnotischen Blick, der nur auf uns gerichtet zu sein scheint. Hanna, die Frau aus dem Publikum, ist völlig verknallt in die Sängerin und wir schmelzen mit ihr dahin.

Es sind Szenen wie diese, mit denen die Mini-Serie „Loving Her“ das Verlangen, das Kribbeln im Bauch und die flirrende Erotik so greifbar macht. Die Serie basiert auf dem niederländischen Vorbild „Anne+“ und ist die erste deutsche TV-Serie, in der eine lesbische Beziehung im Mittelpunkt steht. Ich-Erzählerin Hanna (Banafshe Hourmazdi) hat gerade ihr Literaturstudium in Berlin abgeschlossen. Kurz vor ihrem Wegzug aus der geliebten Wahlheimat läuft sie ihrer ersten großen Jugendliebe Franzi (Lena Klenke, zuletzt mit „How To Sell Drugs Online (Fast)“ bei Netflix) über den Weg. Diese Begegnung ist Anlass für Hanna, die letzten Jahre und Affären Revue passieren zu lassen, die in sechs komprimierten Episoden erzählt werden.

Mit Hanna mitzufiebern fällt leicht. Sie ist cool, draufgängerisch und streitlustig, dann wieder nachdenklich, völlig verpeilt und eine ­Loserin. Bewusst wird darauf verzichtet, eine naheliegende Einwanderungsgeschichte aufzugreifen. Die im Ruhrpott aufgewachsene, deutsch-iranische Schauspielerin Banafshe Hourmazdi („Futur Drei“) ist einfach Hanna, fertig. Folgerichtig steht auch ihre Homosexualität nicht im Vordergrund, das Drama ergibt sich aus den Figurenkonstellationen und dem alltäglichen, zwischenmenschlichen Wahnsinn…

Erschienen in: an.schlaege VI/2021 (Print). Hier geht’s zum vollständigen Online-Artikel.

Malcolm & Marie

Der erste komplett unter Corona-Bedingungen realisierte Film überzeugt vor allem durch seine Ästhetik und durch große Schauspielkunst.

Zwei Menschen, eine Location, viele Konflikte. Das ist die Ausgangslage in Malcolm & Marie. Nach der erfolgreichen Premiere von Malcolms (John David Washington) neuem Film kehrt das Paar nach Hause zurück. Er ist aufgekratzt, tanzt mit einem Glas Whiskey durch das Wohnzimmer. Marie (Zendaya) schweigt, raucht und beginnt wortkarg, Käse-Makkaroni zu kochen. Er redet sich in Rage, monologisiert und merkt erst zehn Minuten später, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Die Nudeln sind gar, und die Situation eskaliert. In den kommenden eineinhalb Stunden dröseln Malcolm und Marie ihre Beziehung unerbittlich auf. Sind brutal ehrlich, offenbaren sich und verletzen einander, nähern sich an und stoßen sich wieder ab….

Der vollständige Text ist online erschienen auf www.ray-magazin.at.
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Roadtrip abseits der Straße

Rezension zu Charlie Kaufmans „I’m Thinking of Ending Things“

Eine Kellertür voller Kratzspuren, ein Hund der sich in Dauerschleife schüttelt, ein Kinderfoto von einem selbst an der Wand eines fremden Hauses. Etwas ist faul in diesem Farmhaus mitten in der US-amerikanischen Einöde, während draußen ein Schneesturm anschwillt und drinnen die Zeit aus den Fugen gerät. In einem Horrorfilm würde im Keller der Killer lauern. In Charlie Kaufmans narrativem Universum ist die Sache komplizierter. Der Drehbuchautor von Filmen wie Being John Malkovich oder Eternal Sunshine of the Spotless Mind arbeitet seit 2008 selbst als Regisseur. 2015 gewann sein Stop-Motion-Thriller Anomalisa als erster animierter Film den Großen Preis der Jury in Venedig. Aktuell ist I‘m Thinking of Ending Things, Kaufmans Adaption von Ian Reids gleichnamigen Romans, auf Netflix zu sehen…

Der vollständige Text ist online erschienen auf www.ray-magazin.at. Hier geht es direkt zur vollständigen Filmkritik.

Bin ich verhaftet? (Rezension „Gott existiert, ihr Name ist Petrunya“)

Eine toughe Heldin kämpft gegen die Dreifaltigkeit des Patriarchats aus Kirche, Staat und Gesellschaft.

Petrunya ist Anfang 30, arbeitslose Historikerin und wohnt bei ihren Eltern. Nach einem miesen Vorstellungsgespräch gerät sie in ein orthodoxes Ritual, bei dem die Männer des Dorfes alljährlich am Dreikönigstag in einen eiskalten Fluss springen. Sie wollen ein Glück verheißendes Holzkreuz ergattern, das der Priester zuvor hinein geschmissen hat. Petrunya wirft sich einem Impuls folgend ebenfalls in die Fluten, schnappt das Kreuz und flieht damit klatschnass vor Priester und perplexer Meute. Zuhause angekommen, wird sie von ihrer streng gläubigen Mutter verpfiffen, die Polizei nimmt sie mit, um auf dem hiesigen Polizeirevier den vermeintlichen Skandal zu klären….

Der Text ist erschienen in Print: Missy Magazine 06/19 und online unter: www.missy-magazine.de

Pull up the dinosaurs‘ skirts

Geschlechterbilder in Jurassic Park (1993) und Jurassic World (2015)

„Do you remember the first time you saw a dinosaur?“ Mit dieser Frage beginnt der zweite Trailer zu Jurassic World – Fallen Kingdomi, der 2018 als fünfter Teil des Dino-Franchises in die Kinos kam. Ich selbst erinnere mich noch genau, wann und wo ich das erste Mal einen Dinosaurier gesehen habe. Natürlich hatte ich zuvor schon mal etwas von Dinosauriern gehört und im Fernsehen auch irgendwie gesehen, zum Beispiel in der Arthur Conan Doyle-Adaption The Lost World (R: Irwin Allen, 1960), in Kevin Connors Caprona – The Land That Time Forgot (1974) oder in Bill L. Nortons Baby – Secret of the Lost Legend (1985). Leguane in Großaufnahme, Handpuppen oder Stop Motion erweckten hier die Donnerechsen aber nur partiell zum Leben. Wirklich gesehen habe ich Dinosaurier erst dank Steven Spielberg, der sie 1993 mit Jurassic Park direkt aus meiner Phantasie als lebende, atmende und fressende Wesen auf die Leinwand projizierte, 65 Millionen Jahre nach ihrem Aussterben….

Der vollständige Essay ist in Print erschienen in: WerkstattGeschichte 79, 27. Jahrgang, März 2019, 2/2018. Zur Heftbestellung: werkstattgeschichte.de
Der Artikel steht auch frei zum Download zur Verfügung.

Abstrakt

„Ein Vierteljahrhundert nach Kinostart ist Steven Spielbergs Jurassic Park noch immer ein Film »worth watching«, was nicht zuletzt an seinen progressiven Geschlechterdarstellungen liegt. 2015 startete mit Jurassic World der erste Teil einer Trilogie, die das Dino-Franchise wiederbelebte, in Bezug auf geschlechtliche Rollenvorstellungen aber stereotyp bis antifeministisch blieb. Die viel zitierten und von Fans und Kritik geächteten High Heels der Protagonistin sind dafür nur der offensichtlichste Beleg. Maxi Braun zeigt anhand eines Close Readings, wie Geschlechterbilder in beiden Filmen unterschiedlich ästhetisch und narrativ verhandelt werden. Neben den weiblichen und männlichen Figuren nimmt sie die gentechnisch bewusst weiblich geschaffenen Dinosaurier in den Blick. Sie legt offen, wie Jurassic Park bereits 1993 (queer)feministische Lesarten eröffnete, als sich Frauenemanzipation im Action- und Science Fiction-Genre erst bestenfalls vorsichtig andeutete. Jurassic World hingegen biedert sich bei den Themen Geschlecht, Reproduktionskontrolle, Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie Frauen in Führungspositionen einem antifeministischen Zeitgeist der 2010er Jahre an.“

Schauen Sie genau hin!

Christopher Nolan (* 30.7. 1970) und sein Einfluss auf das Kino

„Are re you watching closely?“ – mit dieser an die Zuschauer*innen gerichteten Frage endet Christopher Nolans Prestige – Die Meister der Magie (2006). Es geht um zwei rivalisierende Magier im ausgehenden 19. Jahrhundert, die einander ein Leben lang übertrumpfen und die Tricks des anderen entlarven wollen, bis beide daran zugrunde gehen und alles verlieren. Zahlreiche falsche Fährten führen sowohl die Zauberer als auch das Publikum mehrfach in die Irre. Der Rat, ganz genau hinzusehen, empfiehlt sich aber für alle von Nolans Filmen, der selbst einer der großen Kinomagier des zeitgenössischen Films ist.

Christopher Nolan wird am 3. Juli 1970 als Sohn einer US-Amerikanerin und eines Briten in London geboren. Schon früh experimentiert er mit der Super-8-Kamera seines Vaters, ab 1977 verengt sich sein kindliches Sujet auf das Weltall. Grund ist mit Star Wars das erste prägende Kinoereignis, an das er sich erinnert. Als Nolan 12 Jahre alt ist, reift in ihm die Idee, Regisseur zu werden. Er bewundert Alien (1979) ebenso wie Blade Runner (1982) und erkennt, dass die Handschrift von Regisseur Ridley Scott auch in zwei so unterschiedlichen Filmen erkennbar ist. Seine Eltern unterstützen ihn in seinem Wunsch – auch als er die teure Super-8-Kamera kaputt macht. Wie konkret und realistisch seine Einschätzung des Filmemachens ist, zeigt sich in der frühen Erkenntnis: Niemand gibt einem unbekannten Filmemacher ein fertiges Drehbuch. Fortan verfasst er selbst Drehbücher, um eigene Geschichten in petto zu haben. Er findet Gefallen daran, ebenso wie sein jüngerer Bruder Jonathan, mit dem er bis heute an fünf Filmen zusammengearbeitet hat.

Ende der 1980er beginnt Christopher Nolan ein Studium der Englischen Literatur am University College in London (UCL), vor allem wegen des Zugangs zum filmischen Equipment. Er wird Mitglied, dann Präsident des studentischen Filmclubs und lernt seine spätere Frau Emma Thomas kennen. Sie produziert bis heute alle seine Filme, mit ihr gründet er die Produktionsfirma „Synkopie“ und das Paar bekommt vier Kinder. Der Filmclub zeigt 35mm-Filme während des Semesters, in den Ferien kann Nolan die 16mm-Kamera des Clubs für eigene Projekte nutzen.

Nach seinem Bachelor-Abschluss arbeitet Nolan als Skriptreader, Kameraoperateur und Regisseur für Unternehmens- und Industriefilme, bevor 1998 sein mit minimalem Budget realisiertes Spielfilm-Debüt Following erscheint, für das er auch als Drehbuchautor verantwortlich zeichnet. Der schwarzweiße Neo-Noir-Thriller mit unerwartetem Ende beinhaltet schon alle Nolan-typischen Zutaten. Dazu gehört auch die da noch dezent, später labyrinthisch verschachtelte Narration, die er mit Memento (2000) weiter ausbaut. Basierend auf einer Kurzgeschichte und dem Drehbuch seines Bruders erscheint Memento in der Hochphase des Mindfuck-Kinos. Gekennzeichnet durch eine unzuverlässige Erzählweise führen um die Jahrtausendwende Filme wie Die üblichen Verdächtigen (R: Bryan Singer, 1995), The Sixth Sense (R: M. Night Shyamalan, 1999) oder Fight Club (R: David Fincher, 1999) ihr Publikum konsequent und raffiniert in die Irre und warten im Finale mit einem unvorhersehbaren Plottwist auf. Auch am Ende von Memento steht ein Twist, aber die verschachtelte und rückwärts erzählte Geschichte ist die eigentliche Attraktion.

Memento markiert auch die erste Zusammenarbeit mit Nolans langjährigem Kameramann Wally Pfister. Der Dreh an Originalschauplätzen und in urbanen Settings statt in kulissenhaften Studiobauten sowie der möglichst geringe Einsatz von visuellen Spezialeffekten wird zu einem weiteren Markenzeichen Nolans. CGI dient bei ihm nie dazu, Geschichten zu überdecken. Digitale Special Effects nutzt er nur, um die praktischen, „handgemachten“ Effekte aufzuwerten. Filmsprachliche, formale Spielereien sucht man in seinen Werken ebenfalls vergeblich. Die Form dient dazu, Betrachter*innen in die Handlung einzunähen. Dokumentarisch sind seine Filme jedoch nicht, da der Realismus der Diegese durch den geschickten Einsatz von Musik oder Montage oftmals bewusst in Zweifel gezogen wird.

Nach Memento folgt mit der US-Adaption des norwegischen Thrillers Insomnia (2002) eine Auftragsarbeit, mit der Nolan beweist, dass er auch ein größeres Budget händeln kann. Erst dadurch wird sein Engagement bei Batman Begins (2005) denkbar. Es wird ein Erfolg bei Kritik und Publikum. Wo Sam Raimis Spider-Man (2002) die Genese von Peter Parker zum Spinnenmann als selbstironische Coming-of-Age-Geschichte erzählt, wischt Nolans Batman Begins „the smile off the face of Superhero movies“, wie Kyle Smith damals in der New York Post bemerkt. Nolan belebt mit Batman Begins nicht nur die Reihe um DCs düsteren Heroen wieder, er haucht dem ganzen Superheldengenre neues Leben ein, eine Vielzahl anderer Reboots folgt. Auch sein eigenes Sequel The Dark Knight (2008) wird mit Heath Ledger als legendärem Joker ein Erfolg. Hierfür dreht er vier Sequenzen, darunter die Auftaktszene des Bankraubs, im 70mm-IMAX-Format. So sparsam Nolan mit CGI umgeht, so sehr bevorzugt er teures, analoges Filmmaterial. Auch über seine eigenen Filme hinaus. Als Mitglied der gemeinnützigen Organisation „The Film Foundation“ engagiert er sich für die Bewahrung und Archivierung analoger Filme.

Bevor Nolan die Batman-Trilogie mit The Dark Knight Rises (2012) beendet, etabliert er mit Inception (2010) endgültig seine Stellung als einziger Auteur Hollywoods. Er schreibt das Drehbuch selbst, verzichtet wie bei den Batman-Filmen auf ein zweites Kamerateam bei Action-Sequenzen, wie sonst für Filme dieser Größenordnung üblich. Wieder setzt er auf Originalschauplätze und dreht in sechs Ländern, darunter in Tokio, Kanada oder Marokko. Leonardo DiCaprio gibt in dem Science-Fiction-Heist-Film den Dieb Dom Cobb, der die Träume anderer Menschen infiltriert, um Informationen zu stehlen. In einem letzten, entscheidenden Coup dringt er in immer tiefere Schichten der menschlichen Psyche vor und landet, gejagt von den eigenen Dämonen, schließlich im unentrinnbaren Limbo des Unterbewusstseins. Oder doch nicht?

Was hier Realität, was Illusion oder Traumwelt ist, lässt Nolan bewusst offen. Nach zweieinhalb Stunden faszinierender Beugung physikalischer Gesetzmäßigkeiten und waghalsiger Verfolgungsjagden durch die Gehirnwindungen ist das Popcorn alle und der Mund steht offen. Der Ariadnefaden reißt ab und der Regisseur lässt sein Publikum mit der eigenen Interpretation zurück, zwingt uns dazu, unser eigenes Verhältnis zur Realität zu reflektieren. Es gibt keinen anderen Blockbuster, der ein Mainstreampublikum mit einem derart hohen künstlerischen und intellektuellen Anspruch konfrontiert. Da stören auch die vielen Parodien der „Traum im Traum im Traum“-Struktur, beispielsweise in einer Episode der Simpsons, nicht.

2014 taucht Nolan mit Interstellar in extraterrestrische Sphären und arbeitet erstmals mit dem niederländischen Kameramann Hoyte van Hoytema zusammen. In einer dystopischen Zukunft steht die Erde vor dem Kollaps und drei Astronaut*innen machen sich auf eine ungewisse Reise durch ein Wurmloch, um neue Refugien für die dem Aussterben nahe Menschheit zu finden. Nolans Narration wechselt dabei nicht nur elegant die zeitlichen Ebenen, die Grenzen der Physik, von Zeit und Raum werden hier gleich ganz gesprengt. Der Regisseur lässt sich dafür von dem theoretischen Physiker Kip Thorne beraten, der ihm wiederum attestiert, wie ein Mathematiker zu denken. Tatsächlich fertigt Nolan stets akribisch Diagramme an, um bei seinen Erzählstrukturen den Überblick zu behalten. Interstellar ist nicht nur unter den zehn erfolgreichsten Filmen 2014, er ist auch als einziger in dieser Top Ten kein Remake, kein Sequel, kein Reboot und keine Adaption.

Danach kehrt Nolan in irdische Gefilde und in die Zeitgeschichte zurück. Der Kriegsfilm Dunkirk (2017) basiert auf den realen Ereignissen der „Operation Dynamo“ im Zweiten Weltkrieg, bei der 1940 britische Soldaten über den Ärmelkanal evakuiert wurden. Mit drei unterschiedlichen Erzählperspektiven ist er für Nolans Verhältnisse fast schon konventionell erzählt. Es ist der erste Film, für den er eine Oscar-Nominierung in der Kategorie Beste Regie erhält, nachdem er schon 2012 als jüngster Regisseur der Geschichte seine Hand- und Schuhabdrücke im Zement vor dem Grauman‘s Chinese Theatre verewigen durfte.

Der Text ist zuerst erschienen in: Bothmann, Nils (Hrsg.): Schüren Filmkalender 2020, Schüren Verlag 2019 & online hier: www.filmgeblaetter.schueren-verlag.de

Was bleibt

„The Remains – Nach der Odyssee“ exponiert das Leid der Opfer konsequent und ist ein schwer erträglicher, neuer Blick auf Flucht und Migration.

Im Juli 2018 titelte die deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“ mit einem Pro-und-Contra-Artikel zum Thema Seenotrettung. Schon die Überschrift „Oder soll man es lassen?“ löste einen Sturm der Empörung aus und rief die immer gleichen Argumente derjenigen auf den Plan, die auch angesichts akuter Lebensgefahr meinen: Seenotrettung animiere Menschen nur dazu, sich auf die gefährliche Überfahrt und in die zweifelhafte Verantwortung von Schleppern zu begeben. Stattdessen müssten Fluchtursachen bekämpft und die Grenzen gesichert werden. Inzwischen haben wir uns an die Nachrichten von havarierten Schlauchbooten und Migrant*innen gewöhnt, die wochenlang in internationalen Gewässern auf Schiffen privater Seenotretter ausharren, bis ein Staat sie generös aufnimmt. Von denen, die noch immer tagtäglich unentdeckt im Mittelmeer ertrinken, hören wir hingegen nichts.

Nathalie Borgers neuer Dokumentarfilm gibt diesen Menschen eine Stimme und setzt, anders als viele Beiträge zum Thema, nicht auf emotionale, dramatische Bilder. Denn „The Remains“ geht der Frage, was von Menschen, die im Mittelmeer ertrinken, übrig bleibt, auf zwei parallelen Erzählebenen nach. Die erste konzentriert sich auf die materiellen Artefakte. Auf Lesbos, dessen Küste von der Türkei aus wie die Fata Morgana eines besseren Lebens am Horizont erscheinen muss, sind es Gegenstände wie Bootswracks, Schwimmwesten, Zelte oder Plastikmüll, die in statischen, langen Einstellungen gezeigt werden. Neben diesen Fragmenten bleiben auch die Körper derer, die es nicht geschafft haben, zurück. Meist bestattet in anonymen Gräbern, nur  durch das Datum gekennzeichnet, an dem sie geborgen wurden. Eine Szene zeigt eine Rotes-Kreuz-Schulung für Mitarbeiter*innen der Küstenwache in Lesbos. Diese lernen dort, wie Leichen so geborgen werden, dass eine Identifizierung auch Jahre später noch möglich ist. Fotos der Gesichter müssen gemacht, abgetrennte Körperteile eingesammelt, richtig zugeordnet, verpackt und beschriftet werden. Kaum vorstellbar, dass diese Übung darauf vorbereitet, reale Leichen zu bergen.

Zurück bleiben andererseits Angehörige wie Farzat Jamil. Er kommt mit seiner Frau Leyla 2014 nach Österreich, die restliche Familie will 2015 folgen. 28 Verwandte wagen die  riskante Überfahrt von der Türkei nach Griechenland. Die Männer sind mit Schwimmwesten draußen, es ist kalt. Kinder und Frauen befinden sich in der wärmeren Innenkabine, als das Boot kentert und sinkt. 14 Menschen aus Farzats Familie überleben das Unglück, 13 sterben oder sind bis heute vermisst. Er selbst erzählt uns diese Geschichte, blickt dabei direkt in die Kamera, ringt um Fassung. Im weiteren Verlauf kommt die Regisseurin ihm und seiner Familie noch näher. Sie ist dabei, als Farzat am Flughafen Wien endlich seinen Vater und die drei Schwestern wieder in die Arme schließen kann. Der einzige Glücksmoment, den die Familie seit Jahren erlebt. Kameramann Johannes Hammel hält aber auch drauf, wenn der Vater weinend vor Wut die türkische Regierung anfleht, das Boot zu bergen, damit er Frau und Enkel begraben kann. Kein Schnitt schafft Distanz, wenn Farzats älterer Bruder erzählt, dass es ihn zerreißt, Kinder auf der Straße zu sehen, weil von seinen beiden Söhnen seit dem Unglück jede Spur fehlt. Konsequent werden die Opfer so in ihrer Trauer vollständig exponiert. Was als Voyeurismus kritisiert werden könnte, macht es uns unmöglich, wegzusehen.

Wie soll ein Mensch all das verkraften? Der Film gibt darauf bewusst keine Antwort, er kommt ohne Kommentar, ohne Expert*innenmeinung aus. „The Remains“ versucht nicht, uns die Motive der Menschen, die sich aufs Meer begeben, oder die Todesangst der Ertrinkenden zu erklären. Borgers braucht keine dramatischen Bilder, denn die Ratlosigkeit von Helfer*innen, die selbst traumatisiert sind, und die Nahaufnahmen der versteinerten Gesichter derjenigen, deren Trauer unermesslich ist, sind unerträglich genug. Was uns als Zuschauer*innen bleibt, ist nur das berechtigte Gefühl, nicht genug dagegen zu unternehmen.

Erschienen in: an. schläge 2019, an.sehen, III / 2019 (Print)
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Gesetz der Straße (Rezension „Beale Street“)

Filmkritik: „Beale Street“ verwebt Liebesgeschichte und Justizdrama zu anspruchsvollem Black Cinema.

Die titelgebende Beale Street aus James Baldwins Roman „If Beale Street Could Talk“ von 1973 befindet sich eigentlich in New Orleans. Sie steht aber exemplarisch für jede der Schwarz geprägten Nachbarschaften in den USA und ihr soziokulturelles Gefüge, das Baldwin selbst als eine Art Vermächtnis der Schwarzen Community bezeichnet. Barry Jenkins’ Filmadaption greift diese Doppeldeutigkeit ebenfalls auf. Denn einerseits geht es in „Beale Street“ um Alltagsrassismus und die bis heute fortdauernde strukturelle Diskriminierung von Schwarzen Menschen in einem weiß dominierten Justizsystem. Andererseits erzählt der Film die berührende Liebesgeschichte von Tish (Newcomerin Kiki Layne) und Fonny (Stephan James).

Fonny und Tish. Diese beginnt mit einer gemeinsamen Kindheit, in der eine Freundschaft entsteht, die später zu Liebe wird. Jenkins inszeniert diese behutsame Annäherung und erste Phase des Verliebtseins mit langen, ruhigen Einstellungen in den satten Farben des New Yorker Sommers und Herbstes, gedreht an Originalschauplätzen in Harlem. Diese Episoden werden uns aus Tishs Perspektive in Rückblenden erzählt, begleitet von ihrem poetischen bis lakonischen Off-Kommentar. Das Glück ist aber nicht von Dauer: Fonny wird wegen einer brutalen Vergewaltigung verhaftet, die er nicht begangen haben kann. Zur Tatzeit ist er mit Tish und einem alten Freund zusammen am anderen Ende der Stadt. Doch es wiederholt sich ein uraltes Motiv: Das Alibi der eigenen Partnerin und des vorbestraften Freundes zählen auch in den USA der 1970er-Jahre nichts, wenn ein Schwarzer Mann von einem weißen Polizisten belastet wird. Fonny bleibt in U-Haft, während Tish, ihre Familie und Fonnys Vater versuchen, seine Unschuld doch noch zu beweisen.

Mit dem Bauch wächst der Kampfgeist. Zwischen den erwähnten Rückblenden kehrt die Handlung immer wieder in die Gegenwart zurück, markiert durch Tishs Besuche im Gefängnis. Eine Orientierung in den verschiedenen Zeit- und Erzählebenen bietet außerdem Tishs fortschreitende Schwangerschaft, von der sie kurz nach Fonnys Verhaftung erfährt. Parallel zum Bauch wächst auch ihr Kampfgeist, und während Fonny im Gefängnis zur Passivität verdammt verzweifelt, entwickelt sie sich auf der anderen Seite der Glasscheibe von einem naiven Mädchen zu einer souveränen und entschlossenen Frau. Die meisten weiblichen Figuren in „Beale Street“ werden ähnlich stark und selbstbewusst gezeichnet. Tishs resolute Mutter (Regina King erhielt für ihre Rolle eine Oscar-Nominierung) reist allein bis nach Puerto Rico, um den Schwiegersohn zu entlasten, die ältere Schwester ermutigt sie, sich nicht für ein uneheliches Kind zu schämen. Auch Tishs Vater erkundigt sich zuerst danach, ob seine Tochter das Kind bekommen will, und ergänzt sofort: „Denk nicht, du seist ein böses Mädchen! Ich frage nur, weil du so jung bist.“ Jenkins schildert diesen familiären Zusammenhalt eindrücklich, getragen von starken Frauen und einem Vater, der Stolz auf diese Stärke ist. Nicht religiöse oder gesellschaftliche Konventionen bestimmen hier die Regeln, Solidarität ist das oberste Gebot. Erfreulich realistisch ist zudem, dass die Schwangerschaft nicht verklärt dargestellt wird. Hier tritt der Fötus die werdende Mutter auch mal so heftig, dass ihr die Kaffeetasse aus der Hand fällt.

Präzise sezierter Rassismus. Wer am Ende Gerechtigkeit erwartet, wird von „Beale Street“ enttäuscht. Die eigentliche Tragik liegt aber darin, dass sich an dem von James Baldwin schon vor mehr als vierzig Jahren so präzise dargestellten Rassismus bis heute nur so wenig geändert hat. Nicht nur eine Beale Street mit all ihrer lebendigen Dynamik und Problemen gibt es  überall in den USA. Auch Ferguson oder Baltimore stehen exemplarisch für die schlimmsten Ungerechtigkeiten, die Schwarzen Menschen noch heute an zu vielen Orten widerfahren. Barry Jenkins gelingt dieser Tragik zum Trotz eine wunderschön fotografierte und narrativ anspruchsvoll verschachtelte Geschichte, die thematisch über sich selbst hinausweist. Empowernd ist das nicht, aber ein berührendes und meisterhaftes Werk des Black Cinema.

Erschienen in: an. schläge 2019, an.sehen, II / 2019 (Print)
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Verrückt sind die anderen

Psychische Erkrankungen im Film

Die Darstellung psychischer Krankheiten ist ein beliebtes Filmsujet. Besonders Borderline, dissoziative Persönlichkeitsstörung oder paranoide Schizophrenie sind gern herangezogene Motive oder rückwirkende Erklärungsmuster. In Mindfuck-Movies wie „Fight Club“, „Identity“ oder „Shutter Island“ steht nicht die realistische Abbildung eines Krankheitsbildes im Fokus, die Diagnose dient hier der Plausibilität des Plot Twist. Porträts von Persönlichkeiten wie Mathematiker John Nash („A Beautiful Mind“) oder Pianist David Helfgott („Shine – Der Weg ins Licht) sind schon eher um die reale Darstellung der Krankheit bemüht – Nash litt an Schizophrenie, Helfgott hat eine schizoaffektive Störung. Instabile Psychen sind aber auch schon mal Motor einer (romantischen) Komödie wie in „Besser geht‘s nicht“ oder „Benny & Joon“. Die Frage, was die psychisch erkrankte Person und ihr Handeln von uns vermeintlichen „Normalos“ unterscheidet, fasziniert dabei so sehr, wie das Szenario zu Unrecht für „verrückt“ gehalten zu werden („Einer flog über das Kuckucksnest“). Der österreichischen Regisseurin Marie Kreutzer ist mit „Der Boden unter den Füßen“ (Start: 16.5.) ein Film auch über paranoide Schizophrenie gelungen, der kein Drama, kein Thriller und auch keine romantische Komödie ist, aber dennoch ziemlich spannend.

Eine psychische Herausforderung wollen traditionell auch die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen sein (1.-5. Mai). Das Themenprogramm widmet sich diesmal aus historischen, sozialen und ästhetischen Perspektiven dem Genre Trailer: vom klassischen Filmtrailer, über Werbetrailer für kinotechnische Innovationen bis hin zu Trailermaterial als Ausgangspunkt für Arbeiten audiovisueller Künstler*innen. In der Sektion Profile stehen unter anderem das Frühwerk des russischen Regisseurs Alexander Sokurow oder die philippinische Künstlerin und Filmemacherin Kiri Dalena im Fokus. Weitere vertraute Sektionen wie die Wettbewerbe, der MuVi-Preis für das beste deutsche Musikvideo und ein Rahmenprogramm halten die Hirne außerdem reizüberflutend auf Trab.

Danach geht es mit dem 71. Filmfestival von Cannes (14.-25. Mai) weiter. Über das diesjährige Programm an der Croisette stand zu Redaktionsschluss noch nicht viel fest – außer dass vermutlich kein Netflix-Film zu sehen sein wird. Als sicher gilt dagegen die Premiere von Quentin Tarantinos neuestem Film. Allein, weil am 21. Mai 1994 „Pulp Fiction“ ebenfalls in Cannes Premiere feierte. In „Once Upon a Time in Hollywood“ erzählt Tarantino nun vor der historischen Folie der Manson-Morde 1969 die Geschichte eines abgehalfterten TV-Western-Stars. Bei dem realen Sektenführer Charles Manson, der Adolf Hitler bewunderte, im Alter von 80 Jahren im Knast eine 24-Jährige ehelichte und 2017 starb, wurde übrigens nie eine psychische Krankheit diagnostiziert. Als völlig durchgeknallten Irren darf man ihn aber trotzdem bezeichnen.

Dieser Text erschien im trailer ruhr-Magazin 05/19 und online auf www.trailer-ruhr.de