Gattungsgrenzen sprengende Dokumentarfilme

Seit den ersten dokumentarischen Szenen der Filmgeschichte vor gut 120 Jahren hat sich der Dokumentarfilm als Gattung ausdifferenziert. Von Dziga Vertovs agitatorisch-experimenteller „Kino-Pravda“ über das französische Cinéma Vérité und das US-amerikanische Direct Cinema der 1960er, bis hin zu Essayfilmen im Stile Harun Farockis und den Mockumentarys eines Michael Moore. Entsprechend viele Definitionen gibt es heute. Neben der Non-Fiktionalität ist ein allgemein an Dokumentarfilme gerichteter Anspruch, wirklichkeitsnah oder authentisch zu sein. Mit Objektivität hat das nichts zu tun, denn Dokumentarfilme präsentieren stets einen bewusst gewählten Ausschnitt der Realität.

Im Oktober starten zwei die dokumentarische Form strapazierende Filme in den Kinos. Die österreichische Regisseurin Ruth Beckermann analysiert in „Waldheims Walzer“ die Affäre um den Ex-UN-Generalsekretär Kurt Waldheim. Während dieser 1986 um das Amt des österreichischen Bundespräsidenten kandidierte, traten Lücken in seiner Kriegsbiografie zutage. Konfrontiert mit dem Vorwurf mutmaßlicher Kriegsverbrechen, verstrickte sich der Kandidat in Widersprüche und zog sich auf die Position soldatischer Pflichterfüllung zurück. Er wurde zwar gewählt, blieb aber während seiner Amtszeit international isoliert. Die Causa Waldheim führte dazu, dass Österreich den Mythos, erstes Opfer der Nationalsozialisten gewesen zu sein, aufzuarbeiten begann. Beckermann war selbst Teil  der Anti-Waldheim-Proteste und somit persönlich involviert. Sie montiert eigenes Material und solches aus Archiven, um den Wahlkampf spannend wie einen Politthriller darzustellen. In Kombination mit ihrem retrospektiven Off-Kommentar wird der Kompilationsfilm so zu einer universellen Erzählung über die Mechanismen von Populismus, Fake News und das Schüren von Ressentiments, die wir 2018 mit der AfD oder Trump assoziieren.

Auch für Regisseurin Bernadett Tuza-Ritter wurde der Dreh zu „Eine gefangene Frau“ persönlich. Sie begleitete Marish, die in Ungarn als Haussklavin in einer Familie arbeiten muss. Ihr Lohn für nächtliche Fabrikarbeit wird ihr abgenommen, tagsüber erledigt sie den Haushalt. Zum Dank wird sie physisch wie psychisch misshandelt. Modernes Sklaventum dieser Art ist in Europa übrigens kein Einzelfall. Im Verlauf des Films fasst Marish aber Mut zu fliehen und baut sich ein selbstbestimmtes Leben auf. Wäre dies auch ohne die Präsenz der Kamera geschehen? Wurde das Umdenken durch das Reflektieren der eigenen Situation im Verlauf der Dreharbeiten motiviert? Hat die Regisseurin in die Realität eingegriffen und falls ja: Wie hätte sie es denn nicht tun können? Diese Fragen und eine extrem mutige Protagonistin machen „A Woman Captured“ zu einem spannenden Seherlebnis.

Der sowjetische Filmemacher Sergei Eisenstein sagte einmal: „In einem guten Film geht es um die Wahrheit, nicht um die Wirklichkeit.“ Ob die beiden ungewöhnlichen Werke diesem Credo gerecht werden, finden Sie am besten selbst im Kino heraus.

Dieser Text erschien im trailer ruhr-Magazin 10/18 und online auf:
www.trailer-ruhr.de
Zum vollständigen Text.

Premiere von „HeimatKino – Kinokultur im Ruhrgebiet“ am 7.10. in Schauburg Gelsenkirchen

Der Kern des Kinos

Gelsenkirchen, den 7.10.: Fast jeder Mensch erinnert sich daran, wann er oder sie das erste Mal im Kino gewesen ist oder zumindest an das erste besondere Kinoerlebnis. Das hat mit dem dort gesehenen Film zu tun, aber auch mit der Atmosphäre: Schummriges Licht, schwere Samtvorhänge, gepolsterte Sitzreihen, abebbende Gespräche, die in erwartungsvolle Stille übergehen in dem Augenblick, wenn sich der Vorhang öffnet. Das Publikum ist bereit, sich für einen bestimmten Zeitraum in eine andere Welt entführen zu lassen und vielleicht sogar in etwas einzigartiges, völlig neues einzutauchen. Diese Magie des Kinos hat sich in den gut 120 Jahren seines Bestehens technisch zwar massiv verändert, die Formel ist im Kern aber gleich geblieben: Menschen lassen sich in einem dunklen Raum auf ein kollektives Seherlebnis ein.

Die Regisseure Daniel Huhn, Benjamin Leers und Stefan Kreis spüren mit ihrem Film „HeimatKino“ dieser Magie ebenso nach wie den Orten, an denen sie sich entfaltet hat und weiterhin abspielt. Chronologisch führt uns der 55-minütige Dokumentarfilm durch die Geschichte der Lichtspielhäuser der Region. Was mit den ersten Filmvorführungen im 19. Jahrhundert, damals noch als Jahrmarktsattraktion in Kneipen, beginnt, entwickelt sich zu einem boomenden Geschäft.

Nach 1945 lagen hier auch die meisten Kinos in Schutt und Asche, wurden aber wieder aufgebaut und läuteten eine goldene Ära ein. Wer ein hartes Leben hatte, flüchtete für kleines Geld ins Kino. Bald hatte jeder Vorort sein eigenes Filmtheater, zur Hochzeit waren es 500 allein im Ruhrgebiet. In den 1950ern konnten die Kinobetreiber die Eintrittsgelder „Mit der Schubkarre rausfahren“, wie Marianne Menze, heute Leiterin der Essener Lichtburg, erklärt. Historische Hintergründe liefert auch der gebürtige Essener Dietrich Leder, Professor der Kunsthochschule für Medien Köln. Andere Zeitzeugen berichten von dem ersten Kino, das in ihrer Straße eröffnete. Weiter erzählt „HeimatKino“ von der aufkommenden Konkurrenz des Fernsehens, der Gründung kommunaler Kinos und der Ära der Multiplexe bis in die Gegenwart. Heute sind von den 500 Lichtspielhäusern noch 50 Kinos übrig.

Wer kinotechnisch im Ruhrgebiet sozialisiert wurde, wird vor allem die kurzen Porträts der sieben Kinos bzw. Filmclubs wertschätzen, die auch Poträts ihrer BetreiberInnen sind. Wie im Fall des Essener Autokinos DriveIn oder der Postkutsche in Dortmund Aplerbeck präsentieren sie sich wie hartnäckige, kleine Inseln, am Leben erhalten durch überzeugte IdealistInnen. Andere wie das sweetSixteen in Dortmund haben sich etabliert und ein Stammpublikum für sich eingenommen, dass nicht nur das sorgfältig kuratierte Programm, sondern auch die persönliche Ansprache schätzt. Das Filmforum Duisburg behauptet sich als ältestes, kommunales Kino und ist gleichzeitig ein Ort, der Filmgeschichte dokumentiert und archiviert. Oder sie stehen – wie das Metropolis im Bochumer Hauptbahnhof – zumindest durch ihren Standort für eine längst vergangene Ära wie die der Bahnhofskinos mit ihrem durch B-Movies geprägten, non-stop laufenden Programm. Diesem Repertoire hat sich auch der geheimnisvolle Filmclub Buio Omega verschrieben, der jeden dritten Samstag im Monat ab 11 Uhr dem abseitigen, trashigen Film huldigt. Der Motor all dieser Orte ist Idealismus, der auch andere, in „HeimatKino“ nur angedeutete Kinos auszeichnet. Ob das endstation Kino im Bahnhof Langendreer, Astra, Eulenspiegel und Filmstudio in Essen oder Roxy und Schauburg in Dortmund.

Mit der Schauburg Gelsenkirchen findet die Premiere von „HeimatKino“ an einem würdigen Ort statt. Der große Saal ist nicht komplett, aber doch sehr gut gefüllt. Vor dem Screening führt Markus Köster, Leiter des LWL Medienzentrum für Westfalen, in den Abend ein und freut sich „Film zu erleben, wo er hingehört“. Köster erklärt außerdem, dass „HeimatKino“ auch in der schulischen Bildung zum Einsatz kommen wird. Wie nötig es ist, auch Jugendliche für Kino zu begeistern, zeigt sich auch im Altersdurchschnitt des Publikums. Das an die Vorführung anschließende Filmgespräch dreht sich passend dazu um die Frage, wie die Zukunft des Kinos aussehen wird.

Eine Frau wünscht sich beispielsweise im Revier mehr Filmfestivals als zeitlich und räumlich verdichtetes Kinoerlebnis: „Es schadet ja nicht, auch mal ein einen ganzen oder mehrere Tage in einem Kinosaal zu verbringen“. Eine kaum 18-Jährige denkt laut darüber nach, warum Kino bei ihren AltersgenossInnen nicht mehr so in ist und stellt fest, noch gar nicht alle Ruhrgebietskinos mit Programmen abseits des Mainstreams zu kennen.

Zum Abschluss fragt Daniel Huhn, ob jemand im Publikum beschreiben könne, was den Kern des Kinos ausmache. Schließlich meldet sich ein Mann mittleren Alters: „Sich bewusst an einen Ort zu begeben, wo man sich im Dunkeln ohne Ablenkung durch äußere Einflüsse für eine gewisse Zeit auf einen Film einlässt, diesen mit anderen gemeinsam ansieht und danach darüber spricht. Das ist für mich der Kern des Kinos.“ Dieses Statement und das gesamte Projekt „HeimatKino“ machen Lust, die besondere Kinokultur des Ruhrgebiets für sich zu entdecken und all den FilmenthusiastInnen zwischen Dortmund und Duisburg mindestens einen Besuch abzustatten. Solange es sie gibt, ist es um die Zukunft des Kinos gut bestellt.

Die Einzelporträts sind auf den Kinoseiten bei trailer-ruhr.de zu finden. Auf großer Leinwand werden sie im Wintersemester 2018/19 im Studienkreis Film der Ruhr-Universität Bochum als Vorfilm zu sehen sein: www.skf-kino.de
Weitere Infos unter: heimatkino.ruhr

Der Artikel ist Online unter der Rubrik „Foyer“ erschienen auf www.trailer-ruhr.de

Wechselwirkungen: HIV und Aids in der Filmgeschichte

Filme greifen gesellschaftliche Stimmungen auf und können ihrerseits den öffentlichen Diskurs beeinflussen. Ein Beispiel dafür ist Jonathan Demmes Drama „Philadelphia“ aus dem Jahr 1993. Tom Hanks erhielt für seine Verkörperung des aidskranken Anwalts, der gegen seine Entlassung klagt, seinen ersten Oscar. Aus der schwulen Community kam seinerzeit Kritik: an der heterosexuell besetzten Hauptfigur und der ohne die Andeutung sexuellen Begehrens inszenierten Liebesbeziehung zwischen Hanks‘ Figur und seinem Partner (gespielt von Antonio Banderas). Dennoch veränderte die erste Hollywood-Produktion zum Thema die Darstellung homosexueller Beziehungen im Mainstream-Kino sowie den gesellschaftlichen Dialog über Aids.

„Philadelphia“ war aber nicht der erste Film, in dem Aids thematisiert wurde. Schon 1984 wurde Manfred Salzgeber auf „Buddies“ von Arthur Bressan Jr. aufmerksam, der zu einem  frühen Zeitpunkt Vorurteile und Irrtümer rund um HIV und Aids aufgriff. Kein deutscher Verleiher traute sich an den Vertrieb, woraufhin Salzgeber selbst einen Verleih gründete und „Buddies“ 1985 in die westdeutschen Kinos brachte. Heute ist Edition Salzgeber der Traditionsverleih für queeres Kino in Deutschland. Bill Sherwoods „Parting Glances“ von 1986 (Steve Buscemi in seiner ersten Hauptrolle) und „Longtime Companion“ von Norman René (1989) waren zwei weitere, einfühlsame Filme zu der Thematik, an der viele der Pioniere persönliches Interesse hatten. Arthur Bressan Jr., Bill Sherwood, Manfred Salzgeber und Norman René – alle starben an den Folgen von Aids.

Erst seit den späten 1990er Jahren kam im Kino die Botschaft an, dass Aids nicht ausschließlich schwule Männer, Drogensüchtige und Prostituierte, sondern alle Menschen betrifft. In Larry Clarks Independent-Aufreger „Kids“ (1995) wird HIV durch heterosexuellen Sex übertragen, in Almut Gettos „Fickende Fische“ (2002) ist der Protagonist durch eine Bluttransfusion HIV-positiv. Kommerziell und bei der Kritik erfolgreiche Produktionen der letzten Jahre wie „Dallas Buyers Club“ (2013) oder „120 BPM“ (2017) werfen mit ebenso spannend wie emotional erzählten Geschichten den Blick zurück auf die frühe Aids-Ära und zeugen von der allmählichen Historisierung des Themas.

Aktuell ist in den Kinos Carla Simóns einfühlsames Debüt „Fridas Sommer“ zu sehen, in dem eine Sechsjährige 1993 nach dem plötzlichen Tod der Mutter zur Familie ihres Onkels ziehen und neben der Trauer auch Vorurteile und Ausgrenzung bewältigen muss. Denn es ist unklar, ob Frida sich bei ihrer Mutter angesteckt hat. HIV muss hier nicht explizit erwähnt werden. Die Zeit, in der die Geschichte spielt und die Panik anderer Eltern, als Frida sich beim Spielen das Knie blutig schrammt, rufen die fast 40-jährige Geschichte von HIV und Aids in unserem kollektiven Gedächtnis auf.

Heute ist die Krankheit gut therapier-, jedoch nicht heilbar, Neuinfektionen gibt es nach wie vor. Medizinische Aufklärung bleibt daher wichtig. Seit Ausbreitung des Virus vor fast 40 Jahren haben sich aber Vorurteile und Diskriminierung verringert und das Verständnis für Betroffene ist deutlich empathischer. Davon zeugt die Entwicklung der Darstellung von Aids im Film. Andersherum dürften die Filme zum Thema einen Anteil an dieser positiven Entwicklung gehabt haben.

Dieser Text erschien im trailer ruhr-Magazin 08/18 und online auf:
www.trailer-ruhr.de
Zum vollständigen Text.

Netflix gebingewatched, geweint: Wer entscheidet, wofür Filme gemacht werden?

Bekanntlich schlagen die Bäume erst im Mai aus, in Cannes wird aber schon seit März kräftig ausgeteilt. Das mag am mediterranen Klima der Côte d’Azur liegen, vielleicht auch an einer frühlingsgefühlsbedingten Testosteronwallung der Alphahengste Thierry Frémaux und Ted Sarandos. Denn neben Selfies am Roten Teppich und exklusiven Presse-Screenings für JournalistInnen fällt auch Netflix in diesem Jahr an der Croisette aus.

Festivaldirektor Frémaux entschied, dass 2018 nur noch Filme im Wettbewerb laufen, die auch in französischen Kinos starten. Der Abstand zwischen Kinostart und Streaming-Verwertung muss laut französischem Recht aber mindestens 36 Monate betragen – und so lange wollte Ted Sarandos, Chief Content Officer von Netflix, nicht warten und zog beleidigt alle Netflix-Produktionen vom Festival zurück. Außer Konkurrenz oder in einer anderen Sektion? Nicht mit ihm. Aus cinephiler Sicht ist das ein Verlust, denn das Breivik-Biopic „Norway“ von Paul Greengrass, „Hold the Dark“ von Jeremy Saulnier und Alfonso Cuaróns „Roma“ werden wohl nie in einem Kino zu sehen sein. Das könnte auch für Orson Welles‘ unvollendeten „The Other Side of the Wind“ von 1972 mit John Huston, Peter Bogdanovich und Susan Strasberg gelten, für den Netflix 2016 die Rechte erwarb. Die aufwendig restaurierte Fassung sollte in Cannes Premiere feiern. Allerdings: Cannes ist ohnehin kein Publikumsfestival und uns bleibt immer noch der Stream.

Spannender ist der Konflikt wegen der grundlegenderen Frage, um die es eigentlich geht: Wer hat die Definitionsmacht darüber, was Kino ist? Hier stehen sich der US-amerikanische VoD-Anbieter und Cannes als Verfechter unterschiedlicher Auffassungen von Filmkultur gegenüber. Netflix kommt aus dem Land, das Film in erster Linie als massenkompatibles Konsumprodukt versteht. Cannes hingegen gilt als exklusiv und sogar elitär, ein Palm d‘Or-Gewinner muss nicht notwendig auch beim Publikum ankommen. Das Festival rühmt sich nicht zu Unrecht, Film als Kunstform gegen rein kommerzielle Marktmechanismen zu verteidigen. Andersherum wird seelenloser Glamour auch in Cannes nicht kleingeschrieben und Netflix‘ Eigenproduktionen können ein Hort für Innovation sein. Spielfilme wie Dee Rees „Mudbound“ oder Noah Baumbachs „The Meyerowitz Stories“ (der 2017 noch in Cannes lief) sind dafür ebenso Beweis wie die Netflix-Serien, die oft etwas genuin Filmisches haben. „Stranger Things“ feiert das Kino der 1970er/80er Jahre in jeder Einstellung und die Mystery-Serie „Dark“ wirkte als erste deutsche Produktion mal nicht wie ein „Tatort“ oder Fernsehspiel.

Dennoch: Für Netflix ist Film eine Kunstform, die auf dem heimischen Flatscreen oder gar dem Smartphone ebenso funktioniert wie auf der großen Leinwand. Aber der Streit um das Kino als Ort, für den Filme gemacht werden, wird nicht erst seit Erfindung von VHS und DVD geführt und diese Debatte ist nicht die letzte. Auch Amazon-Produktionen laufen auf Festivals und im Kino, Disney strebt eine eigene Streaming-Plattform an und es wird gemunkelt, sogar Facebook verfolge Streaming-Ambitionen. Wie sich die Kunstform, das Kulturgut und das Geschäftsmodell Kino entwickeln wird, bleibt spannend. Und immerhin haben wir als Publikum mit unseren Sehgewohnheiten da auch noch ein Wort mitzureden.

Dieser Text erschien  im trailer ruhr-Magazin 05/18 und online auf:
www.trailer-ruhr.de
Hier geht es zur Online-Veröffentlichung.

Frauen sind erst der Anfang: Diversität im Film: ein weiter Weg

Manchmal markieren Erscheinungstermine unüberwindbare Deadlines und scheren sich nicht darum, ob gerade die Berlinale Bären oder die Academy Oscars verleiht. So erging es mir mit der Märzausgabe. Die Berlinale liegt nun so lange zurück, dass einige der dort gezeigten Filme schon im April in unseren Kinos starten. Darunter ist zum Beispiel Christian Petzolds neues Werk „Transit“: Ein politischer Flüchtling versucht mittels falscher Identität vor den Nazis von Südfrankreich nach Amerika zu fliehen. Basierend auf Anna Seghers Anfang der 1940er im Exil verfassten Roman, siedelt Petzold seine Geschichte im Marseille der Gegenwart an und macht sie dadurch zu einer zeitlosen Parabel. „Jede Flüchtlingsgeschichte ist anders. Jede Flüchtlingsgeschichte ist gleich“, schrieb dazu das US-amerikanische Filmmagazin „Indiewire“.

Ebenfalls im April geht auch Greta Gerwigs Coming-of-Age-Wunder „Lady Bird“ an den Start. Die moderne Mumblecore-Variante einer Stadtneurotikerin zeichnet für Drehbuch und Regie verantwortlich, Soirse Ronan spielt einen Teenager in den 1990ern in Sacramento. „Lady Bird“ wurde gleich in fünf Kategorien für den Oscar nominiert: Beste Regie, Bester Film, Bestes Originaldrehbuch, Beste Hauptdarstellerin, Beste Nebendarstellerin – und ging in allen leer aus. Gerwig war erst die fünfte Frau, die in der Kategorie Beste Regie nominiert wurde. Nach Lina Wertmüller, Jane Campion, Sofia Coppola und Kathryn Bigelow, die den Oscar dann gewann. Bei einer Nominierung blieb es auch für Rachel Morrison („Mudbound“). Da bisher keine einzige Frau in der Kategorie Beste Kamera überhaupt eine Chance auf einen Oscar erhielt, ist das bereits ein kleiner Sieg.

Richtig Spaß machte diese Verleihung aber nicht. Allein Frances McDormands flammende Rede, die sie nach Empfang des Goldjungen für „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ hielt, entschädigte für die Augenringe bis zum Kinn am nächsten Morgen. Außerdem lernten wir von McDormand den Terminus „inclusion rider“: Eine Klausel, die US-SchauspielerInnen in ihre Verträge aufnehmen können, um geschlechtliche wie ethnische Diversität vor wie hinter der Kamera einzufordern. Die Gleichstellung und Repräsentation von Frauen am Set ist da erst der Anfang. Stacy Smith, Professorin an der Universität von Kalifornien, hatte bereits 2014 in einem Artikel im „Hollywood Reporter“ darauf aufmerksam gemacht. Schauspielerin Brie Larson, „Black Panther“-Star Michael B. Jordan und Matt Damons und Ben Afflecks Produktionsfirma „Pearl Street Films“ haben offiziell verlauten lassen, den „inclusion rider“ in ihre Verträge aufzunehmen.

Wenig Probleme mit Diversität hat das Internationale Frauenfilmfestival Dortmund | Köln, das in diesem Jahr zum 35. Mal stattfindet. Nahezu alle der rund 100 gezeigten Filme stammen von Frauen und / oder haben eine starke Frauenfigur als Protagonistin. Mit einem speziellen Preis für Bildgestaltung werden außerdem explizit zwei Kamerafrauen gewürdigt und der diesjährige Fokus „Über Deutschland“ beschäftigt sich nicht nur in vielen Formaten mit Diversität, sondern lebt diese auch. Der Schwerpunkt ist dieses Jahr in Köln, aber auch im Kino im U werden ausgewählte Filme zu sehen sein.

Dieser Text erschien im trailer ruhr-Magazin 04/18 und online auf:
www.trailer-ruhr.de
Zur Online-Veröffentlichung.

Abschluss der CineScience-Reihe „Helden im Film“ im Filmstudio Essen

Bonnie Tyler suchte einen, David Bowie wollte selbst einer sein – zumindest für einen Tag. Aber was genau ist das eigentlich für ein Stoff, aus dem die Helden in Film gemacht sind? Wie werden sie inszeniert? In welcher Welt und Gesellschaft können sie überhaupt über sich hinaus wachsen und zu HeldInnen werden?

All diesen Fragen ist die CineScience-Reihe des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen in Kooperation mit dem Filmstudio Glückauf im letzten halben Jahr nachgegangen. Neben dem klassisch amerikanischen (Action)Helden (hier fehlt die weibliche Form bewusst), dem Wissenschaftler als Filmheld und den Sheroes der Filmgeschichte, schließt die Reihe mit einer Analyse zu AntiheldInnen. Verena Keysers und Nora Schecke vom KWI haben sich als Patinnen und Moderatorinnen des Abends Amerikanist Markus Wierschem und Filmwissenschaftler Alexander Schultz von der Universität Paderborn eingeladen.

Mit einer Fülle von Filmausschnitten und Detailwissen analysieren sie sich durch mehr als 50 Jahre Filmgeschichte. Dabei konzentrieren sie sich auf das US-amerikanische Kino und entwickeln mit dem Publikum gemeinsam die eine oder andere Hypothese dazu, was ein/e AntiheldIn ausmacht. Die ersten Antihelden entwickelten sich in der Spätphase des US-amerikanischen Film Noir Mitte der 1950er Jahre. Das Genre entstand unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs. die Welt wurde stets düster und zynisch gezeichnet. Diesem Pessimismus stand nur ein wenn auch gebrochener Held gegenüber.

Wierchem und Schultz erklären, wie sich in der Spätphase des Genres die Figur des Helden zu wandeln beginnt. Exemplarische Ausschnitte aus Robert Aldrichs „Rattennest“ („Kiss me deadly“) stellen darin den Privatdetektiv Mike Hammer …

Weiterlesen: Hier geht es zur vollständigen Onlinefassung.

Zuerst erschienen auf: www.trailer-ruhr.de

Kritik zu „Manifesto“ mit Cate Blanchett (R: Julian Rosefeldt, 2017)

Audiovisuelle Partitur

„I do manifest because I have nothing to say“ – dieser Satz aus Julian Rosefeldts ursprünglich als 13-Kanal-Installation für Museen konzipiertem Werk „Manifesto“ ist durchaus augenzwinkernd gemeint. In der Installation schallt Cate Blanchett mehrstimmig in verschiedenen Rollen von zwölf Leinwänden herab.

In der linearen Kinofassung geht der polyphone Rausch verloren, dafür bleibt Zeit, in die von Kameramann Christoph Krauss vorwiegend on location in Berlin komponierten Sequenzen einzutauchen. Die Monologe, die Blanchett u. a. als Nachrichtensprecherin, Obdachlose, Puppenspielerin, Punk oder Brokerin proklamiert, bestehen aus gekürzten und neu editierten Manifesten aus den Bereichen der bildenden Kunst, Architektur, Literatur und Film. Einige der rezitierten Statements zu Dada, Futurismus, Fluxus oder Dogma korrespondieren mit den Settings. Andere funktionieren als ironischer Kommentar zu den Situationen, die gleichermaßen alltäglich wie fremdartig wirken.

Julian Rosefeldt vertraut dabei sowohl auf die künstlerische und literarische Kraft der einzelnen Texte als auch auf Cate Blanchett. In nur elf Drehtagen streifte sie sich mit Leichtigkeit unterschiedlichste Akzente, Gesten und diverse Habitus über. Statt Kunsttheorie in Bilder zu gießen, gelingt Rosefeldt eine audiovisuelle Partitur, die Lust macht, die Ursprungstexte – übrigens alle von Männern verfasst und daher bewusst durch eine Schauspielerin performed – aufzuspüren und deren Bedeutung für die Gegenwart selbst zu ergründen.

Zuerst erschienen in:  Missy Magazine

Ich bin dagegen: Besser unterstützen als boykottieren

Hoffen wir, dass das nur wieder eine seiner Phasen ist. So wie Ende der 1990er Jahre, als sich Daniel Day-Lewis für fünf Jahre aus dem Filmbusiness zurückzog, um sich in Italien dem Schuhhandwerk zu widmen. Denn der einzige Schauspieler, der bisher drei Academy Awards als bester Hauptdarsteller in Empfang nehmen durfte („Mein linker Fuß“, „There Will Be Blood“ und „Lincoln“), will seine Karriere nun beenden. Sein Abschiedsfilm soll „Der seidene Faden“ sein, in dem er an der Seite von Vicky Krieps einen Designer im London der 1950er Jahre spielt. Regisseur Paul Thomas Anderson versucht sich hier auch erfolgreich als Kameramann und schafft ein Werk voll altmodischer Eleganz und visueller Perfektion, zugleich unser Film des Monats.

Ein eher unfreiwilliges Karriere-Aus ereilt gerade Kevin Spacey. Im Strudel der #MeToo-Welle wurde er nicht nur aus der Netflix-Erfolgsserie „House of Cards“ geschmissen. Ridley Scott schnitt ihn zudem kurz vor der Premiere in einem Gewaltakt aus seinem neuen Werk „Alles Geld der Welt“, ersetzte ihn kurzerhand durch Christopher Plummer. An der Frage, ob solch statuierte Exempel etwas an der Situation von Frauen (und Männern, wie die Vorwürfe gegen Spacey zeigen) in Filmbranche und Gesellschaft ändert, scheiden sich die Geister, genauso wie an den prominentesten Beispielen Woody Allen und Roman Polanski. #MeToo hat den Kreis jetzt radikal erweitert, in Deutschland zum Beispiel um Dieter Wedel. Drei Ex-Schauspielerinnen werfen ihm im ZEIT Magazin sexuelle Nötigung vor. Dürfen Meilensteine des Kinos wie Allens „Manhattan“ oder Polanskis „Der Pianist“ trotz der gegen ihre Regisseure erhobenen Vorwürfe weiterhin gezeigt, geguckt und gemocht werden?

Sollten wir AutorIn und Werk nicht trennen? Wer entscheidet darüber, ob Vorwürfe stimmen, wenn Aussage gegen Aussage steht und die meisten sexuellen Übergriffe nie juristisch verhandelt werden? Welche/r KonsumentIn will da prophylaktisch boykottieren oder sich gar zum Richter aufschwingen? Hinzu kommt, dass erfolgreiche Boykotte niemals nur Einzelpersonen treffen, denn Film ist immer Teamwork. Und schert sich Hollywood überhaupt um das deutsche Publikum, das im Europavergleich eher kinofaul ist?

Ich habe darauf keine abschließende Antwort. Sinnvoller wäre es, bewusst Filme von Regisseurinnen und solche mit starken Frauenfiguren zu supporten. Im Februar zum Beispiel Barbara Alberts Historiendrama „Licht“, das sich der blinden Wiener Klaviervirtuosin Maria Theresia Paradis widmet. Diese lebte zwar im 18. Jahrhundert, das Biopic funktioniert bei Albert aber auch als Emanzipationsgeschichte einer Frau mit Behinderung. Oder der Rache-Western „Marlina – Die Mörderin in vier Akten“, der schon im Januar gestartet ist. Die indonesische Regisseurin Mouly Surya erobert damit eines der männlichsten Genres überhaupt. Titelheldin Marlina kann es nicht nur mühelos mit John Wayne aufnehmen, sondern wäre auch in einer Girls-Gang mit Beatrice Kiddo oder Shoshanna Dreyfus gut aufgehoben. Statt sich von vier Verbrechern ausrauben und vergewaltigen zu lassen, setzt sie sich zur Wehr und mutiert mit einem Kopf unter dem Arm zur Heroine aller unterdrückten Frauen Indonesiens. Nicht nur ein feministischer, auch ein cinematographischer Genuss und eine Abwechslung von den Sehgewohnheiten des westlichen Kinos.

Dieser Text erschien im trailer ruhr-Magazin 02/18 und online auf:
www.trailer-ruhr.de
Zur Online-Veröffentlichung.

Star Wars zum 40. Geburtstag

STAR WARS (1977):
Der Film, der Mythos, das Mysterium in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Es war einmal vor nach kosmischen Maßstäben gar nicht allzu langer Zeit, in dieser Galaxis, um genau zu sein in San Anselmo auf dem Planeten Erde, als der junge George Lucas einigen Auserwählten eine erste Rohfassung von STAR WARS zeigte. Mangels fertiger Special Effects hatte Lucas ersatzweise Schwarz-Weiß-Material von Luftkämpfen aus dem Zweiten Weltkrieg statt Actionszenen dazwischenmontiert.

Fast alle Anwesenden fanden den Rohschnitt miserabel. Nur Steven Spielberg soll, glaubt man der Legende, nach längerem Schweigen gesagt haben «I like it, George».  Zu Recht, wie uns die Geschichte der letzten 40 Jahre gelehrt hat. Kaum drei Monate nach dem offiziellen Kinostart von STAR WARS am 25. Mai 1977 hatte die Weltraumoper bereits über 100 Millionen Dollar eingespielt, bis Ende des Jahres waren es mehr als 195 Millionen Dollar an der Kasse. Die ZuschauerInnen standen Schlange, manchmal mehrere Blocks weit, der moderne Blockbuster war geboren. Ein Jahr nach dem ersten Kinorelease tobten Lucas Sternenkriege noch immer über die Leinwände. Die Vollendung der ersten Trilogie war da schon beschlossene Sache.

Alles begann aber schon in den frühen 1970er Jahren. Die Autorenfilmer des New Hollywood, darunter z.B. Peter Bogdanovich, Francis Ford Coppola, Robert Altman oder eben Spielberg, wagten mutige Experimente mit Genrefilmen. Als Lucas 1972 das erste Treatment zu STAR WARS verfasste, hatte er mit THX 1138 schon einen ästhetisch durchkomponierten, kühl-dystopischen Science Fiction-Film gedreht. Inspiriert von Serien wie FLASH GORDON oder BUCK ROGERS, sollte dieses Projekt ein märchenhafter Trip in fantastische Welten werden, bei der das Gute gegen das Böse kämpft.

Der erste Satz des wenig mehr als zehn Seiten umfassenden Entwurfs begann mit den Worten: «This is the story of Mace Windu, a revered Jedi Bendu of Ophuchi who was related to Usby C.J. Thape, Padawaan learner of the famed Jedi».
Was wie der Beginn des Alten Testatments oder Tolkiens „Silmarillion“ klingt, war den Entscheidern von Universal und United Artists wohl zu kryptisch. Erst 20th Century Fox bewilligte Lucas 1974 eine Finanzspritze zur Entwicklung eines Drehbuchs. Der Erfolg von „American Graffiti“ (1973) dürfte dabei entscheidender gewesen sein als das noch sehr vage und stark von der Endfassung des Drehbuchs abweichende Treatment. Bis zur finalen, vierten Drehbuchfassung wurde aus Luke Starkiller Skywalker und Lucas schuf sich mit der Gründung seiner eigenen Special Effects-Schmiede ILM (Industrial Light & Magic) 1975 auch die technischen Rahmenbedingungen für sein Projekt. Der Dreh startete im März 1976 in Tunesien. Auch wenn bei den Fortsetzungen THE EMPIRE STRIKES BACK – EPISODE V (1980) Irvin Kershner bzw. bei RETURN OF THE JEDI – EPISODE VI (1983) Richard Marquand Regie führte, stand STAR WARS von Anfang an unter der Kontrolle von George Lucas.

Anfang 1997 kam die Originaltrilogie erneut in die Kinos und spielte nochmal knapp 140 Millionen Dollar ein. Ein guter Lackmustest für das ungebrochene Interesse an der Saga, denn Lucas bereitete da längst den Dreh zu Episode I – THE PHANTOM MENACE (1999) vor. Die Episoden I-III sollten als Prequel die Vorgeschichte der Originaltrilogie erzählen. Die Idee einer insgesamt neunteiligen Serie kam Lucas recht früh, wurde aber erst nach dem Erfolg von STAR WARS 1977 realisitisch. Der zweite gedrehte Film, THE EMPIRE STRIKES BACK von 1980, erhielt daher den Zusatz EPISODE V.

Anders als in Episode IV-VI führte Lucas bei Episode I-III selbst Regie und setzte mit Natalie Portman als Padmé Amidala, Ewan McGregor als junger Obi-Wan Kenobi oder Liam Neeson als Qui-Gon Jinn auf bekannte Gesichter. Hinzu kamen zahlreiche Nebenfiguren (darunter der bei den Fans vernichtend durchgefallene Gungan Jar Jar Binks), exotische Settings und bombastische Effektschlachten. Viele Hardcore-Fans empfanden die Prequel-Trilogie als Sakrileg, die Kritik war eher verhalten. Ins Kino lockte die Geschichte vom Niedergang der Jedi, der Republik und die Metamorphose Anakin Skywalkers zum archetypischen Bösewicht Darth Vader erneut Millionen.

Was macht die «Erzählmaschine» STAR WARS, wie Filmkritiker und Autor Georg Seeßlen die Saga einmal bezeichnete, so erfolgreich? Das politische Klima der extradiegetischen Welt war in den 1970ern denkbar ungünstig. 1974 musste Präsident Nixon im Zuge der Watergate-Affäre abdanken. Das Vertrauen des Volkes in die eigene Regierung verbesserte das nicht. 1975 endete der Vietnamkrieg nach 20 Jahren als Trauma einer ganzen Generation, die Bedrohung des Kalten Kriegs bestand dennoch fort. Keine idealen Voraussetzungen für einen Krieg im Kino, möge er auch in einer weit, weit entfernten Galaxis spielen. Und warum in Phantasiewelten flüchten, wo es doch in der eigenen Geschichte soviel aufzuarbeiten gab?

Auch innerhalb der Diegese sind die Erfolgszutaten nicht offensichtlich. Die Story von STAR WARS ist – hat man sich an Namen wie Leia Organa und Han Solo oder Orte wie Mos Eisley und Tatooine gewöhnt – im Kern weder besonders kompliziert, noch raffiniert. Es geht um eine Rebellion gegen ein totalitäres Regime und den Kampf Gut gegen Böse. Auch pointierte Dialoge sind Mangelware. Harrison Ford soll beim Dreh zu STAR WARS entnervt gemault haben «George, Diese Scheiße kann man vielleicht in eine Maschine tippen, aber sprechen kann man sie auf gar keinen Fall». Schauspielerische Glanzleistungen erklären den unfassbaren Erfolg ebenso wenig wie die oft gescholltene Schneckenfrisur Leias. Filmsprachlich ist STAR WARS außerdem nicht besonders experimentell, allenfalls die von John Williams komponierte Musik mit der charakteristischen Fanfare zu Beginn jedes Films und die Spezialeffekte, die bei beiden Trilogien auf der Höhe der Zeit waren, sind auf der Produktionsebene bemerkenswert.

Die Faszination von STAR WARS liegt darin, dass die Saga eine Projektionsfläche für mannigfaltige Lesarten bietet und daher niemanden unberührt lässt. Die elementare Formel «Gut gegen Böse» wird angereichert mit allerlei Versatzstücken aus verschiedensten Kulturen, Märchen, Religionen, Mythologien. Lucas soll sich bei der Entwicklung an Joseph Campbells The Hero with a Thousand Faces von 1949 orientiert haben. Dessen Grundaussage besteht laut Georg Seeßlen darin, dass sich die seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte tradierten Mythen auf 32 plots herunterbrechen lassen.

Auch das gesamte Star Wars-Universum ist ein Füllhorn des Synkretismus. Die unbefleckte Empfängnis von Anakin in EPISODE I ist nicht erst im Christentum erfunden worden und auch seine Auferstehung als Darth Vader – wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen – ist ein Erzählelement vieler Religionen und heidnischer Rituale. Lucas bedient sich überall, bei der Populärkultur seiner Jugend, bei Akira Kurosawa sowieso. Hinzu kommen Versatzstücke von der griechischen Antike über das Mittelalter bis zur Gegenwart (Imperium, Republik, Monarchie, Steuerstreik und Handelsembargos), angereichert mit Märchenstoff (Es war einmal…), psychoanalytischen Konstellationen, exotischen Orten, fremden Kreaturen, humanoiden Robotern, allesamt transportiert in die phantastisch-futuristische Welt einer weit, weit entfernten Galaxis.

Der ökonomische Erfolg hingegen ist weniger symbolisch aufgeladen, sondern Produkt der Weitsicht George Lucas‘. Drehbuch, Regie und Schnitt lagen von Anfang in seiner Hand, durch die Gründung von ILM hatte er auch die Kontrolle über die Spezialeffekte und spätestens nach dem Erfolg von EPISODE IV war er finanziell völlig autonom von Studios oder anderen externen Geldgebern. Als noch keiner an STAR WARS glaubte, verzichtete er außerdem auf seine Gage und bestand dafür auf die Rechte an den Fortsetzungen und dem Merchandising.

Der Mythos ist auch nach der Abnabelung von seinem Schöpfer quicklebendig. Lucas verwarf schon in den 1990ern die Idee von insgesamt neun Teilen und verkaufte 2012 seine Produktionsfirma Lucasfilms und die Rechte am Star Wars-Imperium an die Walt Disney Company, die im Dezember 2016 den ersten Teil einer Sequel-Trilogie in die Kinos brachte. Aller Vorbehalte dem konservativen Disney-Konzern zum Trotz, rückte THE FORCE AWAKENS von den hochglanzpolierten Bildern der Episoden I-III ab. Der Weltraum darf wieder dreckig sein. Wenn auch die meisten Figuren schablonenartig bleiben, ist mit Rey wieder eine starke Frauenfigur installiert, die in der amazonischen Tradition von Leia und nicht in der passiven Amidalas steht.

Die Saga geht nicht nur bis mindestens 2019 im Kino weiter. Außerdem existieren unzählbare Adaptionen und eigenständige Handlungsstränge in Comics, Romanen, Animationsserien, Videospielen. Das bedrohliche Laserschwert-Summen, unzählige Variationen des Zitats «Ich bin Dein Vater!» und Yodas eigenwilliger Satzbau haben sich weltweit in das kollektive Bewusstsein der Menschen gebrannt. Die Selbstverständlichkeit, mit der Formate wie The Big Bang Theory STAR WARS wiederum in die eigene Diegese einpflegen, schreiben den Mythos weiter fort. Die Mythologie der Star Wars-Saga ist längst selbst zum Mythos geworden, der unsterblich scheint.

Der vollständige Text ist erschienen in: Busch, Werner /  Bothmann, Nils (Hrsg.): Schüren Filmkalender 2017, Schüren Verlag 2016. Zur Bestellung: www.schueren-verlag.de

Fachaufsatz zu Sergej Eisensteins „Oktober“

Die nie überwundenen Barrikaden:
Oktober (1927) als Quelle zur Konstruktion des Mythos der russischen Revolution von 1917
Ein Kanonenschuss ertönt, Schüsse illuminieren die Dunkelheit und hallen durch die Nacht. Die Massen stürmen furchtlos voran, überwinden Barrikaden und dringen weiter Richtung Palast vor, um diesen in einem heroischen Kampf auf Leben und Tod einzunehmen.
Diese berühmte Sequenz der Erstürmung des Winterpalastes aus Sergej Eisensteins Film Oktober – Zehn Tage die die Welt erschütterten, wie der deutsche Titel des Films in Anlehnung an den Erlebnisbericht John Reeds lautet,
lieferte 1927 die Bilderbuchversion einer Revolution. Dass seine Visualisierung des Oktobers 1917 nicht mit den historischen Ereignissen übereinstimmt, darüber ist sich die Geschichtswissenschaft längst einig.
Wird ein Propagandafilm als wahrheitsgetreue Aufzeichnung historischer Ereignisse ausgegeben, finden das die dem Medium Film gegenüber ohnehin schon oft skeptischen professionellen HistorikerInnen natürlich wenig überzeu-
gend, wenn nicht gar lächerlich. Eisensteins Film als bloße Propaganda abzutun und gar nicht erst als historische Quelle in Betracht zu ziehen,wäre jedoch nichtsdestotrotz ein Verlust.
Eine Quelle ist dieser Film indes weniger für den Oktober 1917 in Russland als vielmehr für den historischen Kontext, in dem er entstand. Die Art und Weise, wie die Oktoberrevolution hier inszeniert wurde, gibt Aufschluss darüber, wie dieses Ereignis in der offiziellen Erinnerungskultur tradiert werden sollte, auf welche Art der Mythos einer glorreichen Revolution konstruiert wurde und nicht zuletzt, wie sich die Bolschewiki selbst sahen oder von der Bevölkerung und der Nachwelt wahrgenommen werden wollten…
Den vollständige Text  ist hier erschienen: WerkstattGeschichte 60 (2012)